Der Traum vom freundlichen Schlepper
Fugit. Das ist Latein. Er, sie, es flieht. Es wird also, wie so vieles heutzutage, mit Flüchtlingen zu tun haben, denkst du und setzt dich in den Konzertsaal des Zentrums für Alte Musik (ZAMUS), einen kleinen Teil der gewaltigen ehemaligen Leuchtturmfabrikationsanlage in der Heliosstraße in Köln-Ehrenfeld. Der Cembalist Michael Hell tritt auf, legt Mantel und Hut ab und spielt ein wenig Froberger, konzis und entspannt. Die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann tritt auf und singt mit ergreifend natürlichem Stimmsitz etwas Melancholisches von Barbara Strozzi. Wieder öffnet sich die Tür. Menschen mit kleinen Lederkoffern kommen herein. Die Männer tragen elegant geschnittene, merkwürdig altmodische Anzüge, fast wie in einem Fellini-Film. So sehen doch keine Flüchtlinge aus! Sie sprechen nicht, aber sie schleusen uns, die Zuschauer, durch eine kleine Tür in den Ruinendschungel der alten Fabrik. Kerzenlicht. In vielen Räumen einzelne Musiker. Nach und nach fügt sich ihr Spiel zusammen. Landkarten sind zu einer Art Skulptur zusammengelegt. Leere Konserven. Jemand schläft auf einer Pritsche. Also doch. Die Schauspieler – sie sprechen den ganzen Abend nicht – treiben uns zusammen, trennen uns in Gruppen. Dann fordern sie unsere Ausweise und Handys. WIR sind die Flüchtlinge!
Natürlich geben nicht alle Zuschauer ihre Identitätspapiere und Mobilfunkgeräte ab – und den meisten von denen, die es getan haben, tut es zügig leid. Nun geht es auf eine Reise rund um die alte Ruine, teils im Bus unter Decken, hinter parkende Autos geduckt über einen Supermarktparkplatz oder unter einer gewaltigen Plane wie eine riesige Landqualle. Immer wieder klingt Musik aus der Ferne. Zweimal werden Ruhepunkte erreicht. In einer gruftigen Kneipe musizieren Geige und Bratsche, im Hinterzimmer eines Künstlerkiosks singt Gerlinde Sämann Monteverdi zu Laute und Violine und es werden vergilbte Schwarz-Weiss-Fotos herumgegeben, wie man sie kennt aus den Fotoalben der Großmütter. Auf der Zwischenebene der U-Bahn Venloer Straße/Gürtel treffen sich alle wieder, die zehnköpfige Renaissanceband hält ein Happening ab, die Schlepper ermuntern zum tanzen. Dann wird die Haltestelle durchquert. Und allen werden die Augen verbunden. Mit den Händen am Rücken des Vordermanns flaniert die gigantische Polonaise unter Autohupen über die Straße, hinein in ein Treppenhaus, wo wir verteilt werden. Ganz still ist es. Von irgendwo ganz oben singt Gerlinde Sämann „Schlummert ein, ihr matten Augen“. Nach Bach kann nicht mehr viel kommen. Jeder muss den Moment selber bestimmen, in dem er die Augenbinde abnimmt, seine Papiere einsackt – und geht.
Eine merkwürdige, sehr intensive Erfahrung. Stille und Fremdbestimmung sind die wesentlichen Eindrücke. Kurz nachdem du dich entschlossen hast, mitzuspielen, beginnst du dich als Opfer zu fühlen. Und das nicht, weil einiges doch unernst wirkt, zu klein und brav für das große Thema, ein wenig wie Kindergeburtstag. Sondern weil du dir wirklich die ganze Zeit diese wunderbare Musik herbeisehnst, Fluchtpunkt, Freiheit, Harmonie, ihre Schönheit, sozusagen: durch Entsagung, tatsächlich begreifst. Weil du momentweise wirklich denkst, dass du vielleicht deinen Ausweis nicht wieder kriegst. Weil du dich dabei erwischst, wie du bei Teilung der Gruppe denkst: ‚Warum muss ich zu dieser Frau mit dem freudlosen Gesicht. Hätte ich nicht zu dem netten Intellektuellen kommen können?‘ und bei Anblick der Fotos: ‚Jeder hat ein Schicksal!‘ Dazu kommt die fantastisch ausgewählte, fantastisch gespielte Musik und das Gefühl, mit allen anderen gemeinsam etwas erlebt zu haben. So wirkt auch die Erleichterung beim U-Bahn-Zwischenebenen-Tanzhappening ganz echt, bei Schauspielern wie Zuschauern, und das Ende wie eine notwendige Zugabe, ein Blick auf die andere Seite und eine absolut gesetzte Verbeugung vor der Kraft der Musik.