Dem Wahnsinn verfallen
Zwei Stunden und zehn Minuten ohne Pause – es ist ein langer „Traum eines Frühlingsmorgens“, den der Komponist Alexander Muno da entfaltet. Vielleicht ein wenig zu lang, denn eine packende Opernhandlung wie etwa konfliktreiche Dreiecksbeziehungen, handfeste Eifersüchteleien, kriminelle Machenschaften oder schmerzhafte Liebesromanzen gibt es in Munos Sogno d’un mattino di primavera nicht. Wohl einen Mord! Aber der ist schon längst passiert, bevor sich überhaupt erst der Vorhang hebt. Giuliano, der Geliebte von Isabella, wurde von fremder Hand ins Jenseits befördert und starb in den Armen der Angebeteten. Die ist seitdem voll und ganz dem Wahn verfallen. Sie schreit, sie zittert, gestikuliert bisweilen wild, durchlebt immer und immer wieder diese grauenhafte Mordnacht. Und bekommt einen Therapeuten, der aber nichts ausrichten kann.
Munos neue Oper, mit der er 2014 den Giselher-Klebe-Wettbewerb des Landestheaters Detmold und der Hochschule für Musik Detmold gewann, basiert auf dem titelgebenden Gedicht von Gabriele d’Annunzio, 1897 entstanden und, was die Hauptrolle der Isabella angeht, seiner damaligen Lebensgefährtin, der weltberühmten Schauspielerin Eleonora Duse sozusagen auf den Leib geschrieben. Isabella, die Wahnsinnige, steht folgerichtig auch im Zentrum der Oper. In der geht es aber nicht um die kriminalistische Aufklärung eines Kapitalverbrechens – sondern um Psychologie. Wer der Mörder war, ist völlig zweitrangig. Stattdessen wird das enge persönliche Umfeld porträtiert: Isabelles Schwester Beatrice (Lotte Kortenhaus), der Bruder des Ermordeten namens Virginio (Ewandro Stenzowski), die Pflegerin Simonetta (Kirsten Labonte), die Hausdame Teodata (Patricia Roach), der Gärtner Panfilo (Stephen Chambers) und der Dottore (Andreas Jören) – ein Sieben-Personen-Stück also. Individuen, die irgendwie mit der tragischen Geschichte zu tun haben (könnten). Nichts Genaues weiß man nicht. Aber alle denken nach – vielfach in ausgedehnten Monologen, in Rede und Gegenrede, seltener in Ensembles. Stellenweise erinnert Munos Sogno an Debussys „elleas et Mélisande. Muno schafft eine klangliche Melange, zurückgreifend auf das Schönste des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Richard Wagner, Richard Strauss, und dann eben auch auf den episch breiten Debussy. Flächig angelegte Streicher, dezent und gezielt eingewobene Holz- und Blechbläser, Harfe, Klavier... Neue Musik, die niemanden vor den Kopf stößt, sich aber auch nicht unbedingt über mehr als zwei Stunden in jedem Takt als spannend und lebendig erweist. Obgleich GMD Lutz Rademacher und das Symphonische Orchester des Landestheaters in der Umsetzung dieser durchaus farbigen Partitur Enormes leisten.
Munos „Sogno d’un mattino di primavera wird inszeniert vom Hausherrn des Detmolder Landestheaters, Intendant Kay Metzger. Er entwickelt zusammen mit dem für die Ausstattung verantwortlichen Michael Heinrich durch und durch nachvollziehbare Tableaus, die beinahe im Sekundentakt für die sinnliche Erfahrbarkeit dessen sorgt, was auf der Bühne geschieht. Gestik, Mimik, kleine Details und Nebenhandlungen – das ist mit viel Überlegung gemacht und haargenau arrangiert. Sämtliche Szenen spielen sich ab in einem mit dunkelgrauem, von dünnen weißen Adern durchzogenen Stein ausgekleideten Raum, der schon gleich zu Beginn die Assoziation weckt, hier blicke man in die Grabkammer einer Lebendigen. Und zur Grabkammer wird diese Bühne dann am Ende tatsächlich, wenn Isabella sich den Tod wünscht, vereint mit der ganzen Natur - und ihrem toten Giuliano.
Gesungen wird an diesem Uraufführungsabend grandios! Vor allem von Eva Bernard in der zentralen Rolle der Isabella. Was Alexander Muno ihrer Stimme da abverlangt, ist wirklich mörderisch! Aber Bernard meistert diese Herausforderung mit Grandezza bis hin zu ihrem großen, langen und fordernden Schluss-Monolog. Voller stimmlicher Energie und schauspielerisch von unglaublich authentischer Wirkung! Auch Bernards Kolleginnen und Kollegen (siehe oben) lassen hinsichtlich ihrer vokalen und darstellerischen Qualitäten nicht das Geringste zu wünschen übrig – eine großartige Ensembleleistung also, das Orchester des Landestheaters eingeschlossen.
Vielleicht muss man dieses Stück noch ein zweites oder drittes Mal auf sich wirken lassen, um zu überprüfen, ob es uns Heutigen etwas zu sagen hat. Und wenn ja: was? Oder ob Muno sich womöglich an einer längst vergangenen literarische Strömung abarbeitet – dem neoromantischen Symbolismus -, die im 21. Jahrhundert keine Relevanz mehr hat. Genauso wenig wie die merkwürdig schillernde Gestalt des Dichters Gabriele d’Annunzio, diesem maßlos narzisstischen Dandy, diesem Egomanen, der nicht zuletzt den italienischen Faschisten das Wort redete!