Übrigens …

Peter Grimes im Dortmund, Oper

Das Meer muss draußen bleiben

Premiere Peter Grimes im Dortmunder Opernhaus: Das ist gewissermaßen eine Sensation, oder auch – eine dubiose Merkwürdigkeit. Weil diese Vorstellung einer Uraufführung gleichkommt. Denn weder dieses noch irgendein anderes musikdramatisches Werk des Komponisten Benjamin Britten ist jemals im Theater der Stadt zu sehen gewesen (abgesehen von einer Fremdproduktion in den 70er Jahren). Solcherart fahrlässige Repertoirepolitik hat natürlich Konsequenzen: Das Interesse an der Premiere ist mäßig.

Britten, der in seiner englischen Heimat bis heute als zweiter „Orpheus Britannicus“ gefeiert wird (nach Henry Purcell), ist längst allgemein anerkannt als Vertreter einer klassischen Moderne mit individueller Prägung. Peter Grimes, seine zweite Oper, 1945 in London uraufgeführt, gehört entsprechend zum Kanon der musikdramatischen Werke, die regelmäßig an Theatern zu sehen sind. In Nordrhein-Westfalen etwa haben nicht zuletzt die Rheinoper und das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen bewiesen, dass sogar Britten-Zyklen ihr treues Publikum finden.

Nichts davon in Dortmund, über Jahrzehnte hinweg. Deshalb gibt’s zur Grimes-Premiere schon im Parkett auffällige Lücken, und die Ränge waren zum Verkauf erst gar nicht freigegeben. Nun gut, auf einem Rang muss der Chor laut Regie seinen finalen Einsatz gestalten, doch dieser nicht zwingend notwendige Umstand ist bestenfalls eine kleine Entschuldigung. Mag sein, dass auch Tilman Knabe, als Regisseur bekannt für drastische Lesarten und ebensolche Bilder, nicht jedermanns Geschmack ist. Doch im Kern liegt der Grund fürs mehrheitlich abwesende Publikum darin, dass das Opernhaus Brittens Werk links liegen gelassen und nicht gepflegt hat. Auf Nichtbeachtung folgt Desinteresse – dafür ist Dortmund nun trauriges Paradebeispiel.

Hinzu kommt leider, dass die Produktion nur bedingt lohnend ist. Weil in Sachen musikalischer Interpretation viele Wünsche offen bleiben. Und weil die Regie mit krachenden Statements arbeitet. Der Fischer Peter Grimes ist demnach nicht nur von pädophiler Obsession durchdrungen, sondern zugleich ein sadistischer Kindermörder. Die bigotte Hetzmasse wiederum, ein widerlicher Lynchmob, ist das Prekariat von heute, definiert also als fest umrissene Klasse im politischen Sinn. Und ist sie einmal nicht im Jagdmodus, wird geprügelt und gesoffen und gehurt, zünftige Kopulationsszenen inbegriffen.

Das ist typisch Knabe. Krasse Behauptungen scheren sich nicht um Zwischentöne, Umdeutungen negieren den Kern der Geschichte. Die Regie desavouiert ihre Figuren. So auch die Lehrerin Ellen Orford und Kapitän Balstrode, die Grimes eigentlich fest zur Seite stehen, hier aber als Liebespaar ihren Schützling verraten. Und dann das Meer: seine Schönheit und Kraft, sein Glitzern und Wogen, seine Tücken – in der Musik ist das an allen Ecken und Enden zu hören, Knabe aber sperrt den Ozean aus. Das Publikum darf die Fluten hinter einer raumhohen Betonmauer wähnen.

Erst am Schluss, wenn der Chor eben aus dem Rang den neuen Tag besingt, so als wäre nichts gewesen, obwohl Grimes tot auf der nebelgefluteten Bühne liegt, kreischen die Möwen und rauschen die Wellen. Das klingt wie „Natur ist doch bloß Kitsch“. Wieder so ein Verrat. Entsprechend dürftig fällt die Kneipenszene aus, wenn die Musik den großen Sturm ankündigt, den die Menschen am Meer mehr als alles andere fürchten, der Chor indes nur halbherzig als taumelnde Masse gezeigt wird. Die Ambivalenz von Furcht und Hetzlust findet nicht statt.

Nein, hier ist alles allzu eindeutig. Peter Grimes ein kranker, blutrünstiger Killer, um ihn herum nur Loser, abgewrackte Gestalten der schäbigen Art. Selbst die Lehrerin Ellen Orford wirkt ziemlich gewöhnlich, und Kapitän Balstrode ist kaum ehrbar, vielmehr ein kantiger Typ, der im Zweifel auch Hiebe setzt. Das Milieu, in dem alle agieren, ist entsprechend: Bauten und Räume sind heruntergekommen und öde (geschaffen von Annika Haller), die Kostüme so dreckig wie abgetragen (entworfen von Eva-Mareike Uhlig).

Dieser Trostlosigkeit verleiht besonders Peter Marsh in der Titelrolle stimmliche Kontur. Seine tenorale Strahlkraft ist enorm, wenn er in großer Erregung hadert und zürnt. Die lyrischen Passagen klingen nicht ganz so treffsicher, und mitunter neigt die Stimme zur Verhärtung. Gleichwohl gelingt ihm eine starke, wenn auch nicht bis ins letzte fesselnde Charakterstudie. Emily Newton (Ellen) singt anfangs sehr verhalten, erst nach und nach gewinnt die Stimme an Farbe und Kraft. Souverän und sonor gibt der Bariton Sangmin Lee den Balstrode, aus den kleineren Rollen ragt Karl-Heinz Lehner als Richter mit starker Basskontur heraus.

Schade ist indes, dass die Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Gabriel Feltz nicht nur Probleme haben, rhythmisch mit dem Chor auf eine Linie zu kommen, sondern auch manche Zwischentöne und Farben missen lassen, die Brittens Partitur durchziehen. Gerade die Zwischenspiele (Sea Interludes) hätten mehr Atmosphäre verdient. Erst spät finden Orchester und Dirigent zur expressiven Verdichtung.

Peter Grimes in Dortmund: Regisseur Tilman Knabe wählt die krasse Milieustudie ohne jegliche Empathie. Das reißt uns nicht vom Sitz. Viel spannender ist sowieso die Frage, ob Jens-Daniel Herzog, Opernintendant noch bis zur Saison 2017/18, das Werk Benjamin Brittens nun endlich am Haus verankern wird. Bliebe diese Premiere, diese „Uraufführung“ nämlich eine Eintagsfliege, wäre das ein so mutloses wie peinliches Signal.