Übrigens …

Lulu im Wuppertal, Theater

Abschied von Toshiyuki Kamioka

Der Dirigent Toshiyuki Kamioka verabschiedet sich mit Ende der laufenden Spielzeit aus Wuppertal, wo er beim Sinfonieorchester der Stadt seit 2004/5 künstlerisch überaus erfolgreich wirkte. Auch im Opernhaus leitete er immer wieder Produktionen, avancierte zuletzt sogar zum Opernintendanten. Als solcher kam er dem Ansinnen der Stadt nach, das feste Ensemble aus Kostengründen zu liquidieren und nur noch mit Gästen zu arbeiten. Vertraute Sänger wie Banu Böke, Kay Stiefermann oder Thomas Laske sind erfreulicherweise anderswo – und offenbar nicht schlecht – untergekommen. Wenigstens das. Ob der Wunsch Kamiokas, künftig vor allem in seiner Heimat Japan arbeiten zu wollen, von einem persönlichen Krisenempfinden gelenkt war, muss offen bleiben, aber seine Absicht äußerte er relativ schnell. Inzwischen steht ein neuer Opernintendant fest: Berthold Schneider, zuletzt Operndirektor in Darmstadt. Auf die GMD-Stelle wurde Julia Jones berufen, eine international erfahrene Dirigentin. Noch sind Spielplan und Ensembleentscheidungen für 2016/17 nicht öffentlich gemacht. Man möchte aber hoffen, dass das Ende einer in der Öffentlichkeit durchaus kritisierten Situation als Chance für einen kreativen Neuanfang begriffen wird.

Lulu spielt man in Wuppertal in der von Friedrich Cerha vervollständigten Drei-Akt-Fassung. Die Pariser Premiere 1979 sorgte für weltweite Aufmerksamkeit und stachelte den Ehrgeiz von Theatern an. In den knapp vierzig Jahren seit damals wird aber immer wieder auch auf die Fragment-Version zurückgegriffen. Das sind zwei vollständige Akte, eine hinzu erfundene, den Handlungsfortgang erläuternde Pantomime (meist in Form eines Filmes) sowie der von Berg noch selber orchestrierte Schlussgesang der Gräfin Geschwitz („Lulu, mein Engel“). Er bildete das Finale der Lulu-Suite, welche der Komponist fürsorglich anfertigte, als sich abzeichnete, dass eine Uraufführung seines Bühnenwerkes an der Berliner Staatsoper unter Erich Kleiber nicht zustande kommen würde.

Zu Beginn des dritten Aktes werden neue (Neben)Figuren in die Handlung eingefügt, welche im Grunde nur dazu dienen, den Geldverfall zu thematisieren, welcher Lulu ins Prostituierten-Gewerbe zwingt. Die Wuppertaler Aufführung lässt – vorsichtig sei’s angemerkt – nicht unbedingt spüren, dass die neuen Szenen dem Milieuverständnis Essenzielles hinzufügen. Beate Barons Inszenierung liefert nicht mehr als ein buntes Treiben, wobei ein großer Teil des Ensembles allerdings minutenlang in steifer Kreisanordnung und mit Rücken zum Publikum aufgestellt wird. Nach ihren konzeptionellen Absichten befragt, erklärt die Regisseurin im Programmheft u.a. dass sie es auf eine „bildhafte Übertragung (anlege), die das Geschehen kommentiert und die Aussage des Moments verstärkt“. Für Dr. Schöns wahnhafte Eifersucht im zweiten Akt kam ihr beispielsweise das Bild einer Großwildjagd in den Sinn. Elisa Limberg zeigt auf ihrer kleinen Drehbühne einige Leoparden-Figuren, welche über die Wirkung von animalischem Dekor in einem neureichen Etablissement indes nicht hinaus kommen. Aber auch sonst ist der Regisseurin nur sehr bedingt zu folgen. Man registriert im Rahmen einer ohnehin reichlich verwaschenen Personenführung viele hilflose Standbilder. Besondere Verlegenheit zeichnet sich bei der Figur des Alwa ab, was die etwas füllige Figur von Arnold Bezuyen unfreiwillig unterstreicht.

Warum nach dem Prolog Maler, Dr. Schön und Alwa am Boden hingestreckt liegen und später auch schon mal übereinander her fallen, erklärt sich nicht. Dass sich die Zirkusatmosphäre des Beginns in der Folgehandlung fortsetzt (der Kammerdiener lamentiert sogar im Affenkostüm), ist konzeptionell zwar nicht unlogisch, wirkt auf Dauer jedoch ziemlich penetrant. Der dritte Akt als Strandkonversation in Liegestühlen, die Freier Lulus mit Engelsflügeln, eine „heilige Maria“, welche zuletzt von der sterbenden Gräfin (immerhin mit einiger Logik) angesungen wird – seltsame und wenig sinnerklärende Bilderfindungen einer offenbar von Assoziationszwang infizierten Regisseurin, die in der Premiere denn auch einigen Unmut seitens des Publikums zu spüren bekam.

Immerhin bildet Kamiokas Dirigat einen würdigen Abschluss seiner Wuppertaler Amtszeit (am 20.6. folgte noch ein Abschiedskonzert in der Historischen Stadthalle). Der Dirigent scheint „Lulu“ als lyrisches Konversationsstück zu verstehen. Er setzt auf weichzeichnende melodische Linien und unterstreicht, dass Bergs individuelle Zwölfton-Adaption einen durchaus ohrenfreundlichen Mitteilungscharakter besitzt. Lulus Monolog „Wenn die Menschen“ und andere Stellen erhalten sogar ein fast romantisches Flair.

Martina Welschenbach meistert die Titelpartie tadellos, steigert sich mehr und mehr in die schillernde Laszivität Lulus hinein. Warum sie anfangs mir ihrer Langhaarperücke wie eine Schwester von Rusalka in Erscheinung treten muss, gehört zu den vielen kleinen Geheimnissen der Inszenierung. Den Dr. Schön hat Ralf Lukas erstmals in der vergangenen Spielzeit an der Oper von Kopenhagen verkörpert. So vermag er, stimmlich Wagner-gestählt, die erotische Hörigkeit dieses Mannes auch ohne besondere Regiehilfe weitgehend glaubhaft zu vermitteln. Darstellerisch besonders alleine gelassen wirkt, wie bereits erwähnt, der Alwa von Arnold Bezuyen. Der niederländische Tenor, wie sein Bariton-Kollege mit Wagner und Bayreuth vertraut, singt sich tapfer und imponierend kantabel durch seine in den extremen Höhen fast unsingbar erscheinende Partie. Als Maler wirkt Johannes Grau vokal reichlich knabenhaft, dafür gibt Christian Tschelebiew den Tierbändiger/Athlet als Kraftmenschen (dem freilich – nicht weiter schlimm - der „angefressene Bauch“ fehlt). Der bassprofunde Martin Blasius könnte in seinem noblen Anzug (Kostüme: Marie Gerstenberger) glatt auf eine Party gehen, ohne dass man ihn als Clochard hinausweisen würde. In diversen Rollen (Prinz, Kammerdiener, Marquis) macht James Wood gute Figur, Sandra Borgarts ist als Gymnasiast/Groom o.k. Der altruistischen Gräfin Geschwitz leiht Kathrin Göring ihre schöne, schmiegsame Mezzostimme; als Figur bleibt sie allerdings ein wenig unscheinbar.