Raus aus der Oberflächen-Gesellschaft!
Vor Freude dürfte August Everding, gebürtiger Bottroper und verstorbener Bayrischer Staatsintendant, in seinem Grabe an diesem spektakulären Abend rotiert haben. Denn der redegewaltige Theatermann hat so oft der Revierstadt vorgehalten, kein Bühnenhaus gebaut zu haben. Stattdessen gingen die Kulturverantwortlichen vor Jahren bereits in die Luft, besser: auf den künstlich angelegten Berg der Zeche Prosper-Haniel. Hier entstand, mit großzügiger Hilfe und Förderung der RAG, ein einmaliger Theaterort, der immer wieder ungewöhnlich bespielt wird. Nach Giuseppe Verdis futuristischer Aida (2010) folgte nun der zweite Streich von Regisseur Thomas Grandoch (Bottrop/Berlin) in der hoch gelegenen Arena: Richard Wagners Romantik-Thriller Der fliegende Holländer. Minutenlanger Jubel im ausverkauften Haldenrund nach der Premiere, um die noch einen Tag zuvor wegen Sturm und Regen schwer gebangt werden musste. Die Generalprobe fiel deshalb aus…
Der Bayreuther liefert viele Deutungsansätze für diesen Klassiker: aus der Sicht von Opfer Senta, aus der Erlösungsperspektive des ewigen Wanderers Ahasver, aus dem Blickwinkel der Seeleute und des Bürgertums, aus Wagners Biographie usw. Grandoch entschied sich für Senta, eine junge Außenseiterin, die mit der bilderbuchbunten Oberflächen-Gesellschaft mit Geldgier, Rücksichtslosigkeit und Künstlichkeit im tiefen Clinch liegt. Das Schicksal des untoten Holländers erbarmt sie – sie tötet sich, um ihn menschlich zu retten. Ist es auch ein Triumph für die Liebe? Da lässt der Regisseur Zweifel aufkommen. Für Senta gilt der schuldige Fremdling als metaphysische Utopie – ihr unterwirft sie sich. Es ist für sie aber auch ein Akt der Freiheit – weg von den moralischen und familiären Fesseln, hin zur himmlischen Gnade…
Was Grandoch auch in dieser Inszenierung bestätigt: Er ist ein Meister im Wechsel von Makro- und Mikro-Zoom. Eben noch seemännischer Wirbel auf den aus Containern raffiniert zusammengesetzten Schiffsfragmenten, kurz Zeit später Familienintimität im Hause Dalands, dann wieder ein Ort in Flammen, zurück schließlich zum Kammerspiel um das Duo Senta/Holländer. Dieser stetige Kontrast durchzieht die gesamte Aufführung, erzeugt Spannung, fordert zum Blickwechsel für das Publikum auf – es gibt immer wieder Neues und Zugespitztes zu sehen, zu erleben. Allenfalls das „aufziehbare“ Mädchenballett dauert vielleicht insgesamt zu lange. Aber Grandoch kehrt schließlich wieder zurück zu seinem brutalen Zusammenprall von „Outlaw“ und bürgerlicher Verlogenheit. Rote Fahnen über der sturmumtosten Halde, Aufmärsche der Seeleute, die das Geisterschiff entern, eine effektvolle Stahl-Treppe mitten hinein in die umzäunte Arena – Symbol für Erstarrung und psychischer Begrenzung, ein silbriger Luxusschlitten als Ziel für eine längst moralisch korrumpierte Gesellschaft usw,: Die Regie entdeckt die großen weiten Räume und gibt dem Affen Zucker. Wagners Musik verträgt dies.
Schwer hat es das Orchester und damit auch der Dirigent, die hinter einer transparenten Plane die Partitur in Angriff nehmen. Da klappt nicht alles in der klanglichen Balance, im engen Miteinander von Chören, Statisten, Solisten und Instrumentalisten. Aber insgesamt zwingt der finnische Kapellmeister Valtteri Rauhalammi alle Mitwirkenden wieder zur Einheit zusammen. Da merkte man jedoch, dass zwei, drei Proben fehlten. Die Neue Philharmonie Westfalen kannte sich in Sachen Wagner aus – nicht nur große Oper, sondern eben auch lyrischer Kammerklang ertönte.
Wie finden sich gestandene Wagner-Sänger in diesem Arena-Sound mit seinen eigenen Gesetzen zurecht? Erstaunlich gut. Elisabeth Otzisk ist kein dramatischer Sopran, aber sie behauptet sich in der Koloratur, in Spitzentönen, in schöner Mittellage. Vielleicht könnte sie noch an darstellerischer Intensität bei ihrem Rollen-Charakter gewinnen. Ein satter, baritonal auftrumpfender Holländer-Held: Bastiaan Everink, der im wahrsten Sinne des Wortes durch die Kohlen-Hölle gehen muss, um doch noch sein Heil zu erreichen. Er singt massiv und kernig in den Mai-Himmel hinein und klettert zwischen den Mast-Stangen sportiv hin und her. Michael Tews als Daland: ein leicht schmieriger Bürger, der mal eben seine Tochter an einen reichen Fremden verkuppeln will. Sein Bass besitzt Tiefe und Abrundung in allen Lagen. Lars Rühl als Erik offenbart leichte Tenor-Schwächen und versteht die Welt nicht mehr, als sich Senta dem Holländer zuwendet. Almuth Herbst singt tadellos ihre Mary, eine „Mechanikerin“ von Anstand und Ritualen. Christian Sturms Steuermann besitzt wenig Durchschlagskraft. Aber er muss auch kräftezehrende Wege auf den Container-Planken und an Land absolvieren. Das Zurhausen-Ballet und der Projektchor (Ludger J. Köller) übernehmen ihre Aufgaben mit herzlicher Hingabe.
Also, noch mal zurück zu Everding: Er hätte dieses besondere Format – Oper in Bottrop auf der zugigen Halde – kaum für möglich gehalten. Dass Grandoch hier zusammen mit Rauhalammi und der Solisten-Crew Wagner stemmen können, ist ihrer Fantasie, ihrer Zähigkeit und ihrem Glauben an die Überwindung von Unmöglichem zu verdanken.
Fast alle Vorstellungen sind übrigens ausverkauft! Petrus war gnädig bei der Premiere, er wird weiter als Garant für die Durchführbarkeit von fast Undurchführbarem gebraucht… - bei der „Oper made in Bottrop“.