Il Barbiere di Siviglia im Essen, Aalto-Theater

Albernheiten und Verrücktheiten

Liest man heute Berichte (und Anekdoten) über die römische Uraufführung von Rossinis Barbiere, kann man nur staunen: dass die Premiere vor rund 200 Jahren überhaupt stattfinden konnte – angesichts chaotischer Verhältnisse. Und der Komponist mittendrin: Maestro Gioachino Rossini schrieb die „Komödie aller Komödien“ in nur 13 Tagen herunter. Wenn das denn stimmt… Er sah die Oper in der Nachfolge der Commedia dell´arte – eine dralle, prollige, ver- und überdrehte Volkstheater-Variante zu den Themen Geschlechter und sozialer Oben-Unten-Perspektive. Genau diesen Ton peilt Jan Philipp Gloger bei seinem Essener Aalto-Debüt an. Er weidet sich geradezu an den Möglichkeiten einer deftigen Posse, und greift zuweilen auch mal heftig daneben, was Geschmack, Charme, Ironie oder Witz anbelangt. Dem heutigen „Volk“ gefiel Glogers Ausflug in die Italianitá, so wie er sie versteht, dennoch ausgezeichnet, wie die Bravo-Rufe und der anhaltende Beifall des Publikums bezeugten. Wer komödiantische Entlarvung von Typ, Macht, Geldgier und Eroberung mit Instinkt und Inspiration erwartete, sieht sich allerdings oft schmerzlich enttäuscht.

Zu Beginn: eine leere Bühne. Man schaut in eine dunkle Ödnis, die aber bald „bevölkert“ und belebt wird – ausgerechnet von Kisten, von vielen kleinen und einer ganz dicken großen, die wie eine überdimensionale Pralinendose wirkt. Das Brett vor dem Kopf nahezu aller Figuren, das könnte der Ur-Gedanke Glogers für seine Annäherung an Rossinis Geniewurf gewesen sein. Das Kisten-„Loch“ (Bühne: Ben Baur) wandelt sich zum Gefängnis für das zickige Mündel Rosina, sogar zum gedachten Grab für die junge Dame, die sich eingesperrt fühlt, weiter zum Labor eines Irrenarztes, zur Versteckkammer für alles und jeden und schließlich auch zum Ehe-Ort. Aus Lindoro wird Graf Almaviva, aus der aufmucksenden Rosina wird ein zärtliches (?) Weib, das genau weiß, was es will. Und Figaro, der Moderator und Supervisor der Scharmützel und des Wahnwitzes, lacht sich schlapp über diesen Demaskierungsprozess. Er durchschaut die Lügen und die Trickserei – und ist doch selbst Teil dieses irdischen Spiels der Eitelkeiten.

Gloger investiert vor allem Tempo und Temperament in diesen Zusammenprall komischer Elemente. Das geht oft gut, trifft allerdings auch etliche Male voll daneben. Da liegen der Kitsch und die Zote nahe. Aber die melodiöse Mechanik der Rossini-Musik, die alles überrennt, gibt ihm den Einsatz der Mittel vor. Gloger sieht übrigens viele Parallelen zur heutigen Welt. Diese sei bestimmt, so der junge Regisseur, von „Getriebenheit und Geldsucht“. Die Kisten-Kasten-(De-)Montage der Szene dient ihm bestens dazu. Ob Graf, Friseur, Musiker oder Mediziner – sie alle liefern ihren Beitrag für diese Sicht der Charaktere und der Objekte. Da ist Glogers Entertainment-Ansatz sehr konsequent.

Eine Entdeckung: Der junge italienische Dirigent Giacomo Sagripanti, der jederzeit die Übersicht vom hochgefahrenen Orchestergraben aus behält, die Musik elegant mit den Essener Philharmonikern antreibt und nichts an feinsten Pointen übersieht (Gewittermusik, Verleumdungsarie). Und die Solisten scheinen sich bei dieser Auslegung sehr wohl und sicher zu fühlen. Das Orchester jedenfalls ist der „Gewinner“ des Abends.

Das Ensemble muss sich den Albernheiten und Verrücktheiten von Glogers „Volkstheater“ gnadenlos unterwerfen. Mal wirken die Solisten wie historische Säulen, dann wieder wie Insassen einer Idioten-Anstalt, um im nächsten Moment zurückzukehren zu den Abziehbildern der Commedia. Juan Jose de Leon als Almaviva: ein etwas zu laut auftrumpfender Tenor, der jedoch immer Spielfreude und Jux offenbart; Georgios Iatrou als Strippenzieher (hier auch mal: als Doppel-Dirigent): ein wendiger Figaro-Bariton, der über seine Einfälle und die Folgen scheinbar selbst überrascht ist; Karin Strobos als blondierte, ganz schön durchtriebene Perücken-Rosina: eine kesse, zuweilen sogar furiose junge Dame, die zielbewusst auf ihre emanzipierte Zukunft los geht (und dabei mit herrlich klaren und schnellen Koloraturen aufwartet); Baurzhan Anderzhanov als Blödmann Bartolo: Er singt so schnell das Italienische herunter, dass einem fast der Atem stockt; Tijl Faveyts als zynisch überspannter, kauziger Pop-Musiklehrer Basilio: eine rockig schräge Mischung aus einem Filou und einer grundsätzlich zwielichtigen Existenz.

Der Chor (Patrick Jaskolka) darf mal als Orchester, mal als Polizistenschar richtig doof spielen. Und dabei noch musikalisch gut abschneiden. Auch das ist eine Klasse für sich.

Fazit für diesen Barbiere à la Aalto: sehr frei angewandte Komik mit dem Hammerschlag – aber musikalisch nahezu in jedem Ton veredelt. Selbst bei frechen Fremdzitaten (Puccini).