Übrigens …

La Bohème im Oper Bonn

Ein alter Rodolfo erinnert sich

Giacomo Puccini, dieser Gefühlsnarkotiseur! Wie oft hat man in La Bohème nicht das „donde lieta“ (mit seinem umwerfenden Harmoniewechsel) mit Schmerz in der Magengrube gehört, sich dem letzten Aufblühen der Liebesmusik im Finalakt mit Tränen in den Augen hingegeben. Auch in der Oper Bonn geht es einem so. Nun entwickeln Jacques Lacombe, der neue musikalische Chef des Hauses (am Ende der letzten Spielzeit in seinem Amt eingeführt mit der problematischen Produktion von Rezniceks Holofernes) und das Beethoven Orchester allerdings auch den rechten Seidenglanz, das rechte Parfüm von Puccinis Klangkosmos. Musikalisch also ein äußerst erfreulicher Abend, dem das Publikum denn auch heftig zujubelte,

Erstaunen musste freilich der lautstarke Protest, welcher sich gegen den Regisseur Jens-Daniel Herzog (derzeit noch Opern-Intendant in Dortmund) erhob. Es hat in Bonn weiß Gott mediokere Produktionen gegeben, welche gleichmütig hingenommen wurden. Weshalb jetzt diese Wut, zumal von einem Brutalo in den Pianissimo-Akkord hinein geblökt. Pardon: solch ein unsensibler, widerwärtiger Krakeler sollte verhaftet werden

Fakt ist allerdings, dass die Inszenierung von Herzog durchaus einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Dass Doppelgängerfiguren für ein vertiefendes Verständnis eines Werkes eingesetzt werden, ist – wie eben erst beim Dortmunder Faust – Regie nichtvon Herzog) – erlebt, hin und wieder Usus. Doch seltsam, die Zentralfigur bei Gounod wirkt trotz permanenter Anwesenheit nicht so aufdringlich wie jetzt in Bonn die von „Rodolfo als alter Mann“. Dass die Negativwirkung so stark ist, hat nicht wenig damit zu tun, dass der erste Auftritt dieses Greises so uferlos ausfällt. Minutenlang stapft er musiklos, aber umher stehende Weinflaschen zum Klirren bringend, durch die notdürftig als Wohnunterkunft hergerichtete nüchterne Fabrikhalle von Mathias Neidhart und versucht, Spuren der Vergangenheit auszumachen.

Diese Bildidee ist durch die Stoffvorlage der Oper, Henri Murgers La vie de Bohème durchaus legitimiert. Der Roman hört keineswegs dort auf, wo Puccinis Werk endet. Für die Protagonisten folgen bei Murger nämlich noch Jahre des unerwarteten Aufstiegs, des Erfolges, des Wohlbefindens – bei unterschiedlicher Empfindung über Anpassungen ans Establishment freilich. Marcel sagt bei Murger beispielsweise: „Ich liebe nur noch das Angenehme.“

So weit kommt Jens-Daniel Herzogs Interpretation nun freilich nicht. Aber die Opernhandlung, wie er sie erzählt, spielt in einer Zeit, wo es noch um Aufbruch, gesellschaftliche Verweigerung und Libertinage in unterschiedlichsten Ausformungen ging. Auf irgendeinem Plakat im zweiten Bild ist die Zahl „68“ zu lesen. Das sagt viel und spiegelt sich auch in den Kostümen von Sibylle Gadeke. Musettas in einer Demo-Pose gipfelnder Auftritt wirkt freilich überzogen. Und Polizeieinsatz mit Schlagstöcken statt Weihnachtsfreude: etwas zu gewollt.

Im Momus-Bild wirkt die Regie ohnehin am schwächsten. Das manifestiert sich am stärksten beim Chor, welchen Herzog im Hintergrund-Halbdunkel mehr oder weniger versteckt. Danach gibt es Steigerungen, aber nicht immer starke Lösungen. Dass im dritten Bild ein Bordellschuppen das Bühnenzentrum bildet, ist eine zeitgemäße Variante der Librettovorgabe, unterstreicht sinnvoll den mühsamen „Karriere“weg der Protagonisten. Musette freilich als rot beleuchtete Straps-Tänzerin mit ihren erotischen Schlangenbewegungen selbst noch beim Abschiedsduett Mimi/Rodolfo vor Augen zu haben, nervt einigermaßen. Und dass Mimi Rodolfos Krankheitsbericht über seine Geliebte nicht in einem Versteck mitbekommt, sondern in direkter Konfrontation, ergibt ganz einfach ein falsches Bild.

Über ihre Krankheit weiß Mimi überdies schon längst Bescheid. Wenn sie am Ende des Duetts mit Rodolfo zu Boden sinkt, verliert sie ihre Perücke, welche den Haarausfall (Chemotherapie?) kaschierte. Glatzköpfig bleibt sie auch im letzten Bild. Ihr Leben haucht sie nicht in einem Bett, sondern auf dem nackten Fußboden liegend aus. Die Freunde wollen helfen, sind aber angesichts eines definitiven Todes überfordert, ziehen verlegen an ihren Zigaretten und ergreifen schließlich allesamt die Flucht. Nur der alte Rodolfo kauert sich neben die Tote. Dies ist ein starker Moment, welcher auf den vorhin erwähnten Buh-Wüstling jedoch keine Wirkung ausübte.

Einwandfrei der Opernchor (Marco Medved) und die Kinderstimmen (Ekaterina Klewitz). Viel Licht auch im Sängerensemble, sieht man von dem darstellerisch zwar eifrigen Felipe Rojas Velozo ab, der mit jedoch einer relativ farblosen, in der Höhe zudem scharfen Stimme aufwartet. Der chilenische Tenor wird demnächst auch in Lucia di Lammermoor auftreten; vielleicht kommt es dann zu einem vorteilhafteren Urteil. Auch Ivan Krutikov wird man in dieser Donizetti-Oper wiederbegegnen. Während seines Engagements in Pforzheim war er unter anderem Marcello, jetzt in Bonn verkörpert er (wie auch in frühen St. Petersburger Jahren am Michailowsky Theater) den Schaunard, sympathisch, viril, überzeugend. Martin Tzonev gibt, mit seinen langen Haaren dem Typ eines „Studenten“ besonders gut entsprechend, den Colline persönlichkeitsstark. Irgendwann wäre an seinem Stammhaus wieder mal eine wirkliche Zentralrolle fällig. Er hat unter anderem den Boris „drauf“. Marie Heeschen ist vielleicht keine veritable Sexbombe, fängt die Erotik ihrer Figur aber zur Genüge ein. Ihr Gesang ist ausgesprochen einnehmend. Die Sängerin gehörte vor einiger Zeit dem „Jungen Ensemble“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen an – eine gute Schule.

Besonders umjubelt werden Giorgos Kanaris und Sumi Hwang. Der griechische Bariton hat sich an der Bonner Oper kontinuierlich entwickeln können, die Stimme angemessen expandieren lassen. Sein Marcello erfreut mit maskuliner Kantabilität. Die koreanische Sopranistin ist gleichfalls gut im Ensemble des Hauses aufgehoben, hat schon viele unterschiedliche Opernpartien übertragen bekommen. Ihre Ambitionen im Liedgesang wurden vor einiger Zeit sogar durch einen Auftritt mit Helmut Deutsch „geadelt“. Ihre Mimi ist kein fragiles Geschöpf (wirkt auch vokal vollblühend), sondern eine junge Frau, die nur darauf wartet, aus ihrem Allein-Sein erlöst zu werden. Bei ihrer Erstbegegnung mit Rodolfo ist sie weitaus aktiver, als wie es in der Regel zu sehen ist. Und das geht dann auch wieder auf das Positivkonto von Jens-Daniel Herzog.