Übrigens …

Faust im Dortmund, Oper

Vergebliche Sehnsucht nach Lebensfülle

Vielleicht wäre das Gezerre um Wert oder Unwert von Gounods Faust nicht so massiv und andauernd verlaufen, wenn man sich genügend vor Augen gehalten hätte, dass der Komponist seine Oper nicht nach Goethe, sondern nach Michel Carré konzipierte. Gounods Librettist hat nämlich ein Bühnenstück Faust et Marguérite geschrieben, welches den (freilich eingestandenen) Bezug zum Ideendrama des deutschen Dichterfürsten zugunsten einer lyrischen Liebestragödie à la mode francais aufweicht. Es dürfte überflüssig sein, dies erneut zu erörtern und in eine solche Diskussion später entstandene Werke zum gleichen Stoff wie Boitos Mefistofele oder Busonis Doktor Faust einzubeziehen. Man nehme Gounods Oper mit ihrer herzbewegenden und herzerwärmenden Musik einfach als die intendierte Lovestory, tragisch und schmachtend. Kein intellektuelles Echauffement also, sondern Gefühl pur.

Das Gefühl bei Marguérite ist die urplötzlich aufflammende große Liebe. Faust gerät nicht in die gleiche Siedehitze, auch schwingt bei seinem Liebesschwärmen der Wunsch mit, die ihm bislang versagt gebliebene Fülle des Lebens am Ende seines Daseins womöglich doch noch zu gewinnen. Das ist wie ein Dammbruch und lässt alles andere sekundär erscheinen. Damit Schuld auf sich zu laden, erkennt Faust im Laufe der Handlung jedoch immer klarer. Hier setzt das Regiekonzept von John Fulljames ein. Der Engländer arbeitet an Covent Garden als Assistent des Intendanten, gleichzeitig inszeniert er an vielen Bühnen, in Deutschland etwa am Bremer Theater. Nun also war er in Dortmund zu Gast.

Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man eine Art von Katakombe oder auch den Ausschnitt einer unterirdischen Kanalisation. Das betonfeste Areal mit allen möglichen Öffnungen, aus denen es immer wieder dampft, scheint nun aber auch als Krankenstation zu dienen. Faust vegetiert nicht mehr in einer Bücherstube vor sich hin, sondern hängt – körperlicher Verfall zwingt dazu – an Infusionsschläuchen. Eine Krankenschwester verhindert eine Selbsttötung aus Affekt. Wenn die mitleidslos rauchende Dame sich als Bariton zu äußern beginnt, wird klar, um wen es sich in Wirklichkeit handelt, um Méphistophélès nämlich.

Fulljames verzichtet jedoch auf eine psychologische Deutung (alter ego o.ä.). Er zeigt ganz einfach einen diabolischen Drahtzieher, eine Feindfigur, wie sie jedem Menschen einmal zerstörerisch begegnen kann. Psychologie aber vielleicht doch so weit, als Faust durch Méphistophélès erkennt, dass seine Existenz ein Scheitern, sein Leben eine Weltflucht (in die Wissenschaft) war. Dazu könnte man die in Dortmund fehlenden Bücher u.U. optisch sogar imaginieren wollen. Die von Méphistophélès herbei gezauberten künstlichen Paradiese lösen Fausts Lebensproblem aber nicht, seine Begegnung mit Marguérite lässt ihn sogar auf neue, andere Weise am Leben schuldig werden. Der alte Mann wird sich dessen tatsächlich bewusst, versucht immer wieder, in den vor seinen Augen ablaufenden süßen Albtraum einzugreifen. Der Regisseur verdeutlicht dies durch einen zusätzlichen Faust-Schauspieler, wobei die Altersmaske mal von dem Sänger vorgeführt wird (bis zur Gartenszene, dann noch einmal im Finale), mal von dem Schauspieler, der in Rückblenden auch schon mal den jungen Faust mimt. Der gestenintensive David N. Koch agiert weitestgehend stumm, äußert nur hier und da einige Verzweiflungsworte.

Weitere Eingriffe in das Opernoriginal betreffen die Eliminierung der Walpurgisnacht (zu Recht) und die Interpolation der Kirchenszene in das Bild mit den rückkehrenden Soldaten, womit die himmlischen Stimmen irdisch verortet werden. Dem Schlusshymnus verbleibt allerdings ein gewisses Maß an Jenseits-Wirkung. Der Chor singt hoch auf dem Rang aus dem Hintergrund; und dieser Klang erfüllt mit großer Wirkung das ganze Haus. Der im Bühnenvordergrund zusammengebrochene Faust bestätigt solche Feierlichkeit freilich nicht, und Marguérite verliert sich auf leerer Bühne im Hintergrund.

Das sind durchaus starke Bilder, welche Defizite an anderer Stelle kaschieren helfen. Regelrechter inszenatorischer Notstand herrscht beim Chor. Er ist, meist karnevalistisch kostümiert in ständig wuselnder Bewegung und beschäftigt zweifelsohne das Zuschauerauge, trägt zur Handlungsvertiefung aber so gut wie nichts bei.

In musikalischer Hinsicht punktet das Dortmunder Haus freilich auf geradezu grandiose Weise, was dann auch für den von Manuel Pujol einstudierten Chor gilt. Das „Liebes“paar könne kaum besser besetzt sein als mit Eleonore Marguerre und Lucian Krasznec. Die Sopranistin versteht es, ihrer leuchtkräftigen Stimme in jedem Moment anrührende Zärtlichkeit zu sichern und überzeugt auch darstellerisch als mal himmelhoch jauchzendes, mal zu Tode betrübtes Mädchen. Ihre Leistung soll und kann nicht mit der ihres Tenorpartners unmittelbar verglichen werden. Aber Lucian Krasznec, der seine große Arie mit weichem Sentiment, aber maskuliner Tönung, dazu mit enormer Emphase und unglaublichem Höhenglanz bewältigt (minimale Schwäche beim Spitzenton geschenkt), wirkt vokal geradezu magisch. Diese Leistung müsste selbst an ganz großen Bühnen Furore machen. Der auch schauspielerisch ungemein agile und dazu noch gut aussehende Rumäne verabschiedet sich mit dem Faust ans Münchner Gärtnerplatz-Theater – leider.

Ileana Mateescu ist als Siebel in jeder Hinsicht liebenswert, Almerija Delic gibt die Marthe als handfeste Kokotte; zutreffend gestaltet Ian Sidden den Wagner. Die Rollen von Valentin und Méphistophélès sind zwei-, bzw. dreifach besetzt. Sangmin Lee, als Germont père noch in bester Erinnerung, bringt für Marguérites Bruder eine fast schon zu schwere Stimme mit, aber dieser füllige, raumsprengende Bariton ist schon eine Wucht. Viel Lob erntete bei der Premiere Karl-Heinz Lehner als Méphistophélès, und Dortmund ist sicher stolz über die Bayreuth-Mitwirkung ihres Ensemblemitglieds (Fafner und Titurel auch im nächsten Jahr). Aber Morgan Moody braucht sich mit seiner kernigen Stimme und überlegen süffisanten Bühnenpräsenz hinter seinem Kollegen wohl kaum zu verstecken. Motonori Kobayashi breitet Gounods Musik mit den bestens disponierten Dortmunder Philharmonikern wie auf einem Samtteppich aus

Viel Beifall im freilich nur schütter besuchten Haus. Bei Lucian Krasznec hätten die Ovationen ruhig höher schäumen dürfen.