Schön schaurig
Das ist ganz schwer beeindruckend, wie Alfia Kamalova diese Gouvernante zeichnet. Vom Vormund auf sich allein gestellt, soll sie in einem englischen Landhaus die Kinder Flora und Miles hüten und gerät dabei in eine psychische Höllenfahrt. Denn Geister tauchen auf, mysteriöse Erscheinungen, die sich der Kinder bemächtigen wollen. Oder sind es doch keine Geister? Spuken sie womöglich nur im Kopf der Gouvernante herum?
Im Musiktheater im Revier steht ganz eindeutig die Gouvernante im Mittelpunkt von Benjamin Brittens The Turn of the Screw. Und Alfia Kamalova beglaubigt alle Seelenzustände dieser Frau zwischen unterdrückter Sexualität und Versagensängsten auf das Eindrücklichste – ein ganz intensives Rollenportrait.
Dem jungen Produktionsteam unter Federführung von Rahel Thiel (Regie), das diese Inszenierung für die Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar erarbeitet hat, genügt als Kulisse ein Treppenhaus (Ausstattung: Lisa Schoppmann und Frederike Malke) – innen ganz nüchtern sachlich und zweckdienlich, außen aus Sperrholz und mit Milchglasscheiben versehen, die als prägnante Projektionsfläche für geisterhafte Schattenspiele eingesetzt werden. Dazu ein riesiges Bett links auf der Bühne. In diesem Ambiente spielt sich Brittens Schauergeschichte ab. Es lässt den Akteuren viel Freiraum, um ihre je eigenen Charaktere zu entfalten.
Flora und Miles, die Kinder kommen in blonden Perücken daher - wie aus dem Dorf der Verdammten entsprungen. Man wartet förmlich auf das Aufblitzen der stahlblauen Augen. Judith Caspari (Mitglied des Jungen Ensembles am Gelsenkirchener Theater) und Julius Röttger (vom Knabenchor der Chorakademie Dortmund) machen ihre Sache ganz hervorragend und changieren gekonnt zwischen Unschuldslämmern und kleinen Teufeln. Noriko Ogawa-Yatake gibt stimmlich präsent die warmherzige, aber verängstigte Haushälterin Mrs. Grose. Petra Schmidt als Geist der Gouvernante Miss Jessel beklagt im Gewand einer Art Wasserleiche ihre unglückselige Liebe zum Diener Quint. Diesen mimt Cornel Frey süß-verlockend. Traumhaft seine Melismen, mit denen er den Jungen Miles anlockt – eine englische Variante des Erlkönigs.
Dirigent Valtteri Rauhalammi macht mit dem kleinen Ensemble der Neuen Philharmonie Westfalen jede Gefühlsbewegung spürbar, zeigt auf, wie Stimmungen sich kaum wahrnehmbar ändern. Großartig.
Wenn die Gouvernante am Schluss Miles erwürgt, bleibt die Frage: erwürgt sie das Kind, um den Geist Quint zum Schweigen zu bringen? Oder will sie ihre eigene Seelenqual beenden? Die Antwort muss sich jede und jeder im Publikum selbst geben. Fest dagegen steht: Gelsenkirchens Musiktheater punktet mit einem gelungenen Saisonauftakt.