Übrigens …

Die Fremden im Kohlenmischanlage der Zeche Auguste Victoria Marl

Wem die Stunde des Verbrechens schlägt

Kamel Daoud hat seinem Roman ein Zitat von Emil Cioran vorangestellt: „Die Stunde des Verbrechens schlägt nicht für alle Völker gleichzeitig. Daraus erklärt sich die Kontinuität von Geschichte.“ Ciorans Syllogismus kann man getrost als Hinweis darauf betrachten, dass die Rezeption von Daouds Roman Der Fall Meursault keineswegs so einfach ist wie es scheint, wenn man den Plot nacherzählt. Der Roman steckt voller Verweise und Zusammenhänge. Es handelt sich keineswegs nur um „eine Gegendarstellung“ zu einem scheinbar übermächtigen Vorgänger, wie sein vollständiger Titel behauptet. Daouds Erstling ist auch eine Politkritik, eine Religionskritik, eine Betrachtung zum Kolonialismus und eine Stellungnahme zum Existenzialismus. Nicht zuletzt handelt der Roman von der Macht der Sprache. Daoud wirft einen tiefen Blick in die Seele von Individuen und von ganzen Völkern. Johan Simons, der den Roman in der gigantischen Kohlenmischanlage der Zeche Auguste Victoria in Marl als Musiktheater mit Werken von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti uraufführt, erweitert diesen Blick noch um die Perspektive auf die Cultural Clashes unserer Tage. Die kommen dem Thema von der Kontinuität der Geschichte verdammt nahe: Flüchtlinge kommen heute in ein Land, aus dem vor gut 70 Jahren die Menschen flüchteten. Kritisch beäugen Neuankömmlinge und Einheimische einander, und im günstigsten Falle bleiben sie einander fremd. Die Fremden hat Simons seine Aufführung genannt.

 Der FremdeL’Étranger heißt der Welterfolg von Albert Camus, zu dem der Algerier Kamel Daoud seine „Gegendarstellung“ geschrieben hat. Der „Fremde“ war bei Camus ebendieser Meursault, der in Daouds Titel auftaucht: der Franzose im algerischen Oran, der gerade seine Mutter beerdigt hat und davon merkwürdig unberührt bleibt. Den Einheimischen gaben Meursault und sein Schöpfer Camus nicht einmal eine Nationalität. Nur von „Arabern“ ist die Rede. „Ich habe mich nie als Araber gefühlt, weißt du“, sagt Daouds Ich-Erzähler: „Es ist wie die Negritude, die nur durch den Blick des Weißen existiert.“ Heute benennen wir bei unseren Neubürgern immerhin das Land ihrer Herkunft, aber fühlen wir uns durch diesen Vorwurf Daouds nicht angesprochen? - Camus‘ Meursault erschießt einen solchen „Araber“ – grundlos, weil ihn die Sonne blendete, weil der Araber ein Messer hat. Erneut bleibt er davon merkwürdig unberührt. Erst ganz am Ende, als er vom Gericht bereits verurteilt ist, schleudert er einem Priester seine existenzialistische, gottferne Philosophie ins Gesicht. Meursault, den Generationen gefeiert haben als einen Protagonisten des Existenzialismus und eine der großen Figuren der Literaturgeschichte – wer jemals sich mit der französischen Literatur beschäftigt hat, vergisst diesen Namen nicht.

Und der Araber? „Man redet immer nur von einem Mann“, heißt es bei Daoud, „in Wirklichkeit aber waren es zwei. Der eine konnte lesen und erzählen, während der andere ein armer Analphabet war, den Gott offenbar nur geschaffen hatte, damit er eine Kugel abbekommt und wieder zu Staub wird.“ Der Araber bleibt namenlos in Camus‘ Roman. „Das Wort „Araber“ taucht darin fünfundzwanzigmal auf und kein Vorname“, klagt Haroun bei Daoud: „Alles ist da. Außer dem Wichtigsten: Moussas Name“. Haroun, Daouds Ich-Erzähler, ist der Bruder des Ermordeten, und er gibt dem Opfer eine Biografie. Einen Namen – Moussa, Moses – und eine Familie, deren Mitglieder in der Folge des Mordes zerbrechen. Nicht nur dem Mordopfer gibt Haroun eine Identität, sondern auch seinem Land Algerien. Er schildert es in seinem Identitätskonflikt mit den Franzosen vor und nach dem Befreiungskrieg. Und er klagt dessen jüngere Entwicklung an: die Rückentwicklung zu einer Diktatur voller Willkür und sozialer Ungleichheiten, in der der Islamismus an Einfluss gewinnt und die Kneipe, in der Haroun im Alter von über achtzig Jahren einem unbekannten französischen Gegenüber seine Geschichte erzählt, vielleicht bald die einzige ist, die noch Alkohol ausschenkt.

Camus’ Buch ist für Haroun eine Demütigung: Ein Mitglied der Familie wird zum Opfer ohne Namen, ein Staatsangehöriger zum Opfer ohne Nationalität. Haroun nennt im Gegenzug nicht ein einziges Mal den Namen des Autors des französischen Erfolgsromans. Den des zweiten Opfers schon: Zwanzig Jahre nach dem Mord an Moussa durch Meursault schlägt die Stunde des Verbrechens erneut, und sie schlägt dem anderen Volk. Haroun tötet einen Franzosen. Ohne Grund. Und doch irgendwie unter Zwang. Er erlöst damit seine Mutter, und er bringt seine Familie, aber auch sein Land nur einen Monat nach der gewonnenen Unabhängigkeit mit diesem Mord wieder auf Augenhöhe. Sein Opfer heißt: Joseph. Namen sind so wichtig in Daouds Abrechnung, die auch eine Hommage ist an das große Vorbild – eine Hommage aus der Gegenperspektive, eine Spiegelung. Und die endet wie der Roman des großen Franzosen: Mit einer wütenden emotionalen und gleichsam existenzialistischen Polemik des emotionalen Krüppels Haroun gegenüber einem Imam. Gegenüber dem Vertreter der Religion. Und gegen sein Land, das sich nach den Befreiungskriegen wieder zurückentwickelt hat.

Diese wesentlichen Handlungsstränge finden sich auch in der Ruhrtriennale-Fassung von Vasco Boenisch und Tobias Staab, die den Romantext ansonsten massiv gekürzt haben. Doch was tut man, wenn man ein solches Werk, das seine Kraft aus der Verdeutlichung kultureller und rassistischer Missverständnisse und Vorurteile zieht, exemplarisch auf die Bühne bringen will? Das sich im Subtext um die Schwierigkeit (oder gar die Unmöglichkeit) dreht, eine fremde Perspektive einzunehmen? Simons besetzt die Romanfiguren mit Schauspielern, die weit von der Identität ihrer literarischen Vorbilder entfernt sind. Haroun, Hauptfigur und Erzähler von Daouds Roman, wird von fünf verschiedenen Akteuren gespielt, die zusätzlich andere Rollen übernehmen. Die fünf Darsteller sind drei Männer und zwei Frauen, weiße Europäer mit vier verschiedenen Nationalitäten. Auch ihre Spielweise ist eine andere als die Vorlage es nahelegt: Die Schauspieler sprechen langsam und pointiert, aber Emotionen werden bewusst unterspielt. Identifikation und Empathie sind nicht gewollt; Simons will den Prozess des Perspektivwechsels verdeutlichen. Er verlangt uns eine intellektuelle Transfer-Leistung ab um den Preis, dass die Figuren und die Geschichte zu uns auf Distanz bleiben. Nur Sandra Hüller wagt es gelegentlich, gegen die gewollte Statik des Sprechens anzuspielen. Benny Claessens kann erfreulicherweise gelegentliche ironische Untertöne nicht unterdrücken, und seinen Meursault verfremdet er immer wieder in eine clowneske, aber eben dadurch in dieser Welt nicht mehr geerdete Figur. Risto Kübar darf im zweiten Teil der Aufführung einen einsamen kleinen Tanz in der Mitte der inzwischen zur Gänze geöffneten riesigen Mischanlage vollführen und dem Zuschauer die Verlorenheit der menschlichen Kreatur in einer Welt ohne Gott auch emotional nahebringen.

Zu der Distanz, die wir über lange Zeit in allzu großem Maße zu der von Simons erzählten Geschichte haben, trägt leider auch die großartige Halle bei. Schnell ergibt sich ein ähnliches Problem wie bei der Anchor Production der letztjährigen Ruhrtriennale, als Simons in der Mischanlage der Zeche Lohberg in Dinslaken sein Musiktheater nach Pasolinis „Accatone“ aufführte: Das Ambiente ist beeindruckend, aber in der Größe der Halle verlieren sich die Schauspieler, wirken ihre Bewegungen statisch oder spielzeughaft, und schlimmer noch: lassen sich ihre Stimmen nicht geographisch aussteuern. Ständig sucht man nach demjenigen, der gerade spricht, und verliert dadurch die Konzentration auf den Inhalt.

Die von dem in der Mitte der Bühne platzierten Ensemble Asko?Schönberg exzellent gespielte Musik wirke willkürlich, bemängeln viele Rezensenten – und ernten Widerspruch von der Dramaturgie. Die Mechanik der musikalischen Strukturen von Ligetis Kammerkonzert und der wiederholte emotionale Ausbruch aus dieser Mechanik entsprächen der Erzählweise und -struktur sowohl von Daouds und Camus‘ Romanen als auch der emotional verkrüppelten Lebensweise von Meursault und Haroun, aus der beide ebenfalls gelegentlich ausbrechen. So soll die absurde, teils gar kafkaeske Atmosphäre der Romane musikalisch illustriert werden. Mauricio Kagel habe man ausgewählt, weil er als Argentinier weder eine afrikanische noch eine europäische Perspektive habe und das „Fremde“ daher besonders überzeugend verkörpere – das wirkt nun doch ein wenig weit hergeholt. Großartige Wirkung entfaltet Claude Viviers „Bouchara“, das musikalische Herzstück, das die Aufführung in zwei Teile teilt. Die Sopranistin Katrien Baerts versetzt uns mit ihrem wunderbaren melodischen Gesang in einer eurasisch angehauchten Phantasiesprache in eine fremde, visionäre Welt. Gleichzeitig verschiebt sich die Rückwand der Bühne, die sich nun zur vollen Länge der gigantischen Mischhalle öffnet. In tiefes Dunkel ist sie getaucht, unterbrochen nur von einzelnen warmen Lichtern. Das ist nun wirklich … einfach schön.

Oder etwa nicht? Aernout Miks Film, der die Inszenierung begleitet und das eigentliche Highlight dieser Aufführung darstellt, zeigt zu Beginn dieses wunderbaren Liedes Bilder von im Befreiungskrieg gestorbenen algerischen Kriegsopfern. Doch in Schönheit sterben lässt diese Musik die gezeigten Opfer nicht. In der weit geöffneten Halle verlieren sich die Darsteller endgültig in einer Welt ohne Gott, zurückgeworfen auf sich selbst. „Der Freitag, das ist kein Tag, an dem Gott sich erholt hat. Das ist ein Tag, an dem er flüchtete, um nie wiederzukommen,“ hatte es zuvor geheißen. Miks Film hatte im ersten Teil vor allem Schwarz-Weiß-Szenen aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg, aber auch Straßen- und Strandszenen, Dünen, Feste und religiöse Symbole gezeigt, das Nebeneinander von Turban und Badekleidung. Im zweiten Teil zeigt der Filmemacher nun Bilder, die er mit einem Heer von Statisten in eben dieser Mischanlage gedreht hat. Es sind Bilder von einer Halle, die zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert wurde. Fast dissonant wird die Musik; unübersehbar viele Betten in exakter Geometrie strahlen Sterilität und Kälte aus, dann wieder herrscht Chaos im Flüchtlingsheim. Polizisten, viele davon mit Migrationshintergrund, räumen (im Film) die Halle. Der zweite Teil der arg verkopften Aufführung zeigt uns die Absurdität unserer Welt und gelegentlich entwickelt er – vor allem aufgrund der Filmkunst Aernout Miks - sogar so etwas wie Wucht. Johan Simons ist mit seiner Erzählung im Heute angelangt, und wir können nachdenken über die Kontinuität von Geschichte. Zum Beispiel wann die Stunde des Verbrechens eigentlich uns geschlagen hat.

 


 

 

Kurz und bündig:

 

Eine verkopfte Aufführung hält Plot und Figuren von Daouds Roman auf Distanz. Dennoch gibt der Abend dem Zuschauer Anlass zum Nachdenken und zur Überprüfung der eigenen Perspektive.