Übrigens …

Carré im Bochum, Jahrhunderthalle

Raummusik als imaginäres Theater

Das Hörerlebnis live gespielter Musik wird durch die optische Wahrnehmung des Musizierens begleitet und beeinflusst. Man denke an die magischen Bewegungen des Dirigenten, an die berühmten „wogenden Streicher“ der Berliner Philharmoniker oder an die gewaltigen Schläge der golden schimmernden Becken, für die sich der Spieler eigens erhebt. Umgekehrt verstärkt die Unsichtbarkeit der Schallquelle bei den majestätischen Klanggebirgen der im Rücken des Publikums postierten Bläser im Requiem von Hector Berlioz oder das hinter der Bühne geblasene Trompetensignal, das in Beethovens Fidelio Freiheit und Erlösung ankündigt, den Eindruck jenseitiger Macht.

Am 18. und 19. August 2016 kam bei der Ruhrtriennale die Komposition Carré für vier Orchester und Chöre von Karlheinz Stockhausen durch die Bochumer Symphoniker und das Chorwerk Ruhr unter der Leitung von Rupert Huber, Matilde Hofman, Florian Helgath und Michael Alber in der Bochumer Jahrhunderthalle zur Aufführung. Dieses 1959/1960 entstandene, wegen der immensen Schwierigkeiten sehr selten gespielte rund vierzigminütige Werk wurde nach einer Pause wiederholt. „Ein großes Orchester von 80 Spielern ist in 4 Orchester aufgeteilt, die ungefähr gleiche Besetzung haben. Zu jedem Orchester gehört ferner ein gemischter Chor mit 12 bis 16 Sängern.“ (Stockhausen) Die vier Gruppen sind an vier Seiten des Saales um das Publikum herum platziert. Die vier Dirigenten haben Sichtkontakt, um die exakt notierte Partitur mit häufigen Tempowechseln und äußerst differenzierten Kombinationen der Klanggruppen präzise zu realisieren. Stimmen und Instrumente verbinden sich zu komplex abgestuften Mischungen unterschiedlicher Farbe und Dichte zwischen glitzernden Schwärmen von Klangpunkten, zart filigranen oder zerklüfteten Strukturen und langen, geheimnisvoll getönten Flächen. Die wechselnden Beziehungen der Orchester- und Chorgruppen vermitteln den Eindruck einer Bewegung der Musik im Raum. Schnelle Wechsel, Sprünge, Kreise und Diagonalen machen die Klänge zu Akteuren einer akustisch–räumlichen Dramaturgie vielfältiger Charaktere und kommunikativer Prozesse: Musik als Medium eines abstrakten aber sinnlich–plastischen imaginären Theaters. Alle Beteiligten überzeugten durch hohe Qualität bei der Aufführung dieses spektakulären Werkes.

Dem theatralen Reiz der musizierenden Ensembles und vor allem der interagierenden Dirigenten begegnete Stockhausen mit der Empfehlung: „Am besten schließt man zeitweise die Augen, um besser hören zu können.“

Während in den 1950er und 1960er Jahren Komponisten wie John Cage und insbesondere Mauricio Kagel im „Instrumentalen Theater“ die optischen Komponenten des Musizierens kompositorisch thematisierten, konzentrierte sich Stockhausen auf die immanente Theatralik der Musik selbst. Die beiden Aufführungen von Carré waren im Konzert der Ruhrtriennale durch die elektronischen Kompositionen Gesang der Jünglinge (1954/56) und Cosmic Pulses (2007) gerahmt. Die Präsentation aller drei Werke erfordert dabei eine differenzierte elektronische Klangregie, die von Kathinka Pasveer in der Tradition Stockhausens kongenial realisiert wurde.

Der Gesang bildet mit seiner Dauer von fast 14 Minuten und dem kompositorischen und geistigen Anspruch das erste große elektronische Werk Stockhausens. Nach einem minutiösen Material- und Strukturplan verbindet der Komponist mit Generatoren erzeugte Schallelemente und Aufnahmen einer Knabenstimme, die nach bestimmten Vorgaben Verse aus dem „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ (3. Buch Daniel) singt. Das vokale Material reicht von der verständlichen Deklamation einzelner Worte, vor allem der formelhaft wiederholten Aufforderung „Preiset den Herrn“, bis zu Phonemen und Stimmgeräuschen, die sich mit den unendlich vielfältigen elektronischen Klängen zu komplexen Bildern und fließenden Übergängen verbinden. Der jubelnde Lobpreis Gottes durch seine Schöpfung vermittelt Stimme und abstrakte Elektronik zu einem kohärenten Bedeutungsfeld: „Die Worte werden memoriert, und dabei geht es vor allem darum, dass sie überhaupt und wie sie memoriert werden, und sekundär um den Inhalt im einzelnen; die Konzentration richtet sich auf das Geistliche, Sprache wird rituell.“ (Stockhausen) Das Werk wird mit vier oder fünf Lautsprechergruppen realisiert, „die um die Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wie vielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden, das alles wird für dieses Werk maßgeblich.“ (Stockhausen)

Cosmic Pulses stellt die 13. Stunde des Zyklus Klang dar, der den 24 Stunden des Tages gewidmet ist und unvollendet blieb. Das Werk erscheint im doppelten Sinne als Experiment. Zum einen hat Stockhausen das Prinzip der Klangschichtung extrem erweitert. „Ich habe zum ersten Male eine Überlagerung von 24 Klangschichten ausprobiert, als hätte ich die Rotationen von 24 Monden oder 24 Planeten zu komponieren.“ (Stockhausen) Die 24 Schichten kreisen in 24 verschiedenen Lagen von tief bis hoch und 24 Geschwindigkeiten von langsam bis schnell. Sie setzen in der Tiefe beginnend nacheinander ein und werden gegen Ende entsprechend ausgeblendet.. Die Dichte und Unerbittlichkeit dieser Musik, die über acht Lautsprecher das Publikum umgibt, impliziert zum zweiten eine existentielle Perspektive: die Position des Menschen im Kosmos. Die Erhabenheit der rotierenden, dröhnenden, rollenden, wogenden, pochenden, klirrenden Farb–Klang–Bänder vermittelt eine Geborgenheit in der pythagoreischen Sphärenharmonie ebenso wie die völlige Ausgesetztheit in einer gewaltigen Unendlichkeit: Faszination und Schrecken in einem. „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören.“ (Rainer Maria Rilke, 1. Duineser Elegie)

Stockhausens Raummusik definiert Klänge als stationäre oder bewegte Objekte und damit den Raum und die Zeit als dramatische Kategorien der Komposition. Die Musik umhüllt das Publikum um so zwingender, je mehr eine optische Kontrolle des Klanggeschehens ausgeblendet ist. Stockhausen formuliert ein „unsichtbares Theater“ (Richard Wagner) als geistig–geistlichen Raum einer sinnlich erfahrbaren Spiritualität, die die Möglichkeit bietet, eher „zu sich selbst zu kommen, als außer sich zu geraten.“ (Stockhausen)

Ein wunderbarer Abend der Ruhrtriennale: ein außergewöhnliches Erlebnis des Hörens, des Fühlens, des Denkens.

(Die Zitate von Karlheinz Stockhausen stammen aus Programmtexten der Stockhausen–Kurse Kürten, dem Booklet zur CD: Gesang der Jünglinge beim Stockhausen–Verlag und dem 2. Band der Texte von Stockhausen, [Köln 1964]).