Übrigens …

Les Contes d'Hoffmann im Wuppertal, Theater

Neustart an der Wupper

Man hätte es vorher wissen können, dass dieses Unterfangen scheitern würde: ein gut eingeführtes Opernhaus von seinen fest und sicher stehenden Füßen auf den Kopf zu drehen – oder ihm denselben gleich abzuschlagen. Das nämlich tut, wer ein Solistenensemble von beachtlicher Qualität von jetzt auf gleich vor die Tür setzt, keinen Kapellmeister mehr für nötig erachtet, hinfort nur noch mit Gästen arbeitet – und Musiktheater nach dem „Stagione“- oder „En suite“-Prinzip anbietet. So geschehen Anno 2014 in Wuppertal, wo der damals schon zehn Jahre als GMD der Wuppertaler Sinfoniker arbeitende Dirigent Toshiyuki Kamioka zum Opernintendanten gekürt wurde. Und das Haus auf die eben beschriebene Weise umstrickte. Das Publikum stimmte mit den Füßen ab – und kehrte „seiner“ Opernbühne den Rücken! Auch Kamioka suchte sozusagen das Weite und kündigte seinen eigentlich bis 2019 laufenden Intendanten-Vertrag!

Wer mag ein derart vor die Wand gefahrenes Institut neues Leben einzuhauchen? Berthold Schneider nimmt diese Herausforderung an und versucht mit Beginn dieser Spielzeit einen Neustart. Und der kann sich sehen und hören lassen angesicht der musiktheatralischen Doppel-Premiere Mitte September: erst die Video-Oper Three Tales von Beryl Korot und Steve Reich (erstmals auf einer Bühne realisiert!), tags darauf Offenbachs Les Contes d’Hoffmann! Hier kam Berthold Schneider auf die Idee, das Werk vier verschiedenen Regie-Teams anzuvertrauen. Ein Experiment! Eines, das mehr oder weniger glückte. Und es waren große Namen: Charles Edwards kümmerte sich um den (hinzuerfundenen) Prolog, um Luthers Weinstube und den Epilog. Nigel Lowery übernahm den Olympia-Akt, Christopher Alden inszenierte den der Antonia und Inga Levant brachte die Giulietta-Szene auf die Bühne. Vier unterschiedliche Handschriften also, sicher die markanteste von Inga Levant, die Hoffmanns Venedig-Besuch in eine Art Sanatorium verlegt. Drei riesige Badewannen sorgen dort für Hygiene, ein gynäkologischer Behandlungsstuhl steht auf der Seite, jede Menge anderer Sitzgelegenheiten, jede Menge Patienten – und eine Giulietta in Form einer Krankenschwester in knallrotem Lackröckchen. Alles anfangs getaucht in Neonfarben (Grün und Pink) – schrill! Ganz das Gegenteil zum Antonia-Akt mit seinen beiden rechtwinklig zueinander stehenden schäbig-grauen Wänden, in denen die junge Frau ihr Dasein fristen muss, streng bewacht von ihrem oberhalb der Wand wie ein Aufseher positionierten Vater. Durch eine schlichte Bodenklappe kommt Hoffmann zu ihr. Dass er sich zu Antonia hingezogen fühlt, kommt bei Christopher Alden allerdings kaum vor, stattdessen ist Hoffmann mit einer dicken Kladde beschäftigt, schreibt seine dichterischen Einfälle dort hinein. Und Olympia ist für Nigel Lowery kein Automat, keine leblose Puppe, eher ein Zirkuspferd, das zum Vergnügen einer festlichen Gesellschaft vorgeführt wird. Insgesamt aber gibt es kaum wirklich spannende, gar überraschende Regie-Einfälle. Charles Edwards’ Idee, im Prolog die Muse als schon ganz schön schickere Theaterdramaturgin auszugeben, die erst aus dem Weinglas, dann bald direkt aus der Pulle in sich hineinschüttet, sorgte im Publikum für gute und lockere Stimmung – auch als sie den etwas wuselig und abgewrackt wirkenden Hoffmann mit Aldi-Tüte an der Hand aus dem Foyer auf die Bühne holte und das Spiel beginnen konnte. Jede Menge einzelner Gags, mitunter auch nachdenklich stimmender Momente – aber was fehlte, war so etwas wie ein Roter Faden im Hinblick auf Hoffmann, dessen Erfahrungen von Akt zu Akt ja katastrophischer für ihn werden und die beim Publikum im Idealfall für zunehmende Empathie sorgen. Derartige Gefühle entstehen in Wuppertal nicht.

Musikalisch aber hat dieser Hoffmann Qualitäten: David Parry am Pult des Wuppertaler Sinfonieorchesters macht Tempo, liefert ausgesprochen farbige Klänge, koordiniert Bühne und Graben exzellent. Darauf können sich die Sängerinnen und Sänger verlassen: der Belgier Mickael Spadaccini in der Titelrolle - spielfreudig und konditionsstark (auch wenn er seine Spitzentöne oft von unten nach oben „schieben“ muss), ebenso Sara Hershkowitz in allen vier führenden, mit Leidenschaft umgesetzten Frauenrollen. Mark Bowman-Hester gibt mit schönstem „frechen“ Tenor die Diener, Kerstin Brix die alkoholisierte Muse. Auch Luther/Crespel ist mit Sebastian Campione, Wilhelm/Schlemil/Hauptmann mit Simon Stricker sowie Nathanael/Spalanzani mit Sangmin Jeon vortrefflich besetzt. Catriona Morison als Nicklausse/Engel singt ein bezauberndes „Lied von der Geige“. Grandios Lucia Lucas, die sich als Lucas Harbour 2014 für eine Geschlechtsumwandlung entschied und jetzt als Frau mit einem enormen Bariton aufwartet. Sie ist Stadträtin Lindorf, Coppelius, eine gebieterische Frau Dr. Miracle und in Inga Levants Sanatorium eine selbstbewusst auftretende Ordensschwester namens Dapertutto resp. Dapertutta.

Das Wuppertaler Opernhaus kann nach diesem ermutigenden Start wieder einen klaren, nach vorn blickenden Kopf auf seinen Rumpf stecken – und wird gewiss wieder zu einem lebendigen, pulsierenden Organismus.