Eine Kopfgeburt
Am Eingang der Deutschen Oper am Rhein steht ein Schild, welches darauf hinweist, dass bei der einleitenden Sturmszene von Verdis Otello Stroboskop-Licht eingesetzt wird. Menschen mit Neigung zur Epilepsie seien also gewarnt. Was machen nun aber diese armen Leute? Wird man sie später einlassen oder gar erst in der Pause zum zweiten Akt? Die gesundheitlich ungefährdeten Opernbesucher freuen sich hingegen vermutlich: da wird Oper doch wohl mal richtig spannend. Nix davon in Michael Thalheimers Inszenierung, welche im Februar dieses Jahres bereits an der Vlaamse Opera Gent heraus kam.
Wer sich in den Arbeiten des renommierten Regisseurs nicht so sehr auskennt, lässt sich gerne aufklären, dass seine „bewährten Register … Konzentration und Verknappung“ sind. In einem langen, wirklich informativen Gespräch mit dem Dramaturgen Luc Joosten gesteht Thalheimer, dass er lange brauchte, bis er sich zu einer Otello-Regie entschloss. Shakespeare wartet zwar noch weiter, aber Verdi vermochte ihn anzuspornen. „Durch die Musik sind die Figuren wie verwundete Tiere, die in die Katastrophe getrieben werden“. Hohe, hehre Worte. Es nimmt nicht wunder, dass die einzige Interpretation des Shakespeare-Dramas eine von Luc Perceval in München war, wo ein bühnenmittig platziertes Klavier für ständiges emotionales Crescendo sorgte. Bei Thalheimer ist dieses indes mehr inwendiger Natur, in den äußeren Mitteln „streng choreografiert“ wie es eine Rezension nach der Genter Premiere formulierte.
Dass für Thalheimer keine dramatisch bewegte Inszenierung zu erwarten steht, lässt der Anfang sofort erkennen. Dirigent Axel Kober treibt mit dem exzellenten Chor des Hauses (Gerhard Michalski) und den Düsseldorfer Symphonikern das Gewitterstimmige der Introduktion zwar auf eine wahrhaft furchterregende Spitze und verhält sich gegenüber Verdis Musik auch später nicht zimperlich (der lyrische Kontrast des Finalbildes wird aber gleichfalls überzeugend ausgespielt). Die Chorsänger verharren indes als amorphe Masse nahezu bewegungslos im Hintergrund, im dritten Akt gibt es nur ein totes Tableau, welches von einem hoch fahrenden Wandsegment freigegeben wird. Herum gestanden wird ohnehin reichlich und penetrant. Nur der Titelheld darf sich in permanent expressiver Gestik präsentieren, auch Jago wirkt hier und da angestachelt.
Thalheimers Konzept legt es nicht auf eine psychologisierende Erzählweise an, der Regisseur möchte die Handlung vielmehr wie in Otellos Kopf entstehend offerieren. Er befindet sich also ständig auf der klaustrophobisch schwarzen Bühne von Henrik Ahr, alle Situationen verdichten sich zu persönlichen Angstbildern. Aber selbst unter diesen Umständen sollte man ein spannungsreiches Bühnenspiel erwarten dürfen, zumal Thalheimer mit Sätzen wie „Otellos größter Feind ist Otello selbst“ die interpretatorische Messlatte hoch ansetzt. Auch eine gesellschaftsfeindliche Einstellung der keineswegs nur engelsgleich zu sehenden Desdemona kommt in dem erwähnten Interview zur Sprache. Aber der Zuschauer fühlt sich in der Rolle von Bergs Wozzeck: „Ich sehe nichts.“ Nun gut – fast nichts. Aber eine elementare Bühnenschwäche von Thalheimers Inszenierung ist nun einmal nicht schön zu reden, mögen einige optisch grelle Zuspitzungen auch immer wieder beleben.
Die Verbildlichung von Otellos psychisch labiler Konstitution, offen für böswillige und eifersuchtsstachelnde Einflüsterungen, leistet der großartige Rolleninterpret Zoran Todorovich (Rollendebüt auf der Bühne) natürlich nicht alleine, da hat Thalheimer fraglos Hilfe geleistet. Aber der Unterschied zu dem reichlich plakativen Kalaf (in dieser Spielzeit wieder in Duisburg) darf als ein ganz persönlicher Qualitätssprung gesehen werden. Neuerlich prunkt der serbische Tenor (inzwischen wohl Mitte fünfzig) mit heldentenoraler Verve und körperhafter Attraktivität. Unglaublich bühnenpräsent auch Boris Statsenko (ein ähnliches Alter steht zu vermuten), welcher mit dem Jago sein langjähriges Wirken an der Deutschen Oper am Rhein auf wirklich fulminante Weise krönt. Baritonale Kraft im Verein mit süffisant ausgestelltem Nihilismus formt ein Porträt von grausamer Schärfe. Am Schluss drückt dieser perfide Welt- und Gottverächter Otello einen Dolch in die Hand. Starkes Bild am Ende einer schwächelnden Inszenierung.
Eigenes Kapitel für das vokale Desdemona-Wunder von Jacquelyn Wagner. An der Deutschen Oper am Rhein war sie bereits als Fiordiligi und Arabella zu erleben, Die seraphisch verkörperte Verdi-Partie hebt ihre Kunst auf eine neue Stufe. Vor ihrer Leistung kniet man förmlich nieder. Der Zwischenbeifall nach dem Lied von der Weide und dem Ave Maria in der Premiere war verständlich, nichtsdestoweniger grausam.
Bei den restlichen Sängern gefällt vor allem Ovidiu Purcell mit seinem tenoral erotischen Cassio. Es gefallen aber auch Sarah Ferede (Emilia), Florian Simson (Roderigo), Bogdan Talos (Lodovico), David Jerusalem (Montano) und Dong-In Choi (Bote). Warum sie was auf der Bühne tun, müsste man wohl mal den Regisseur fragen.
Dass Axel Kober die Otello-Partitur voll auslotet, wurde bereits angemerkt, darf als positiver Ausgleich zu dem – übrigens nicht von allen Zuschauern empfundenen – Regie-Manko nochmals erwähnt sein.