Fatale Emotionen
Norma – das ist große Oper mit Belcanto pur, mit viel romantischem Pathos, mit fatalen Emotionen, mit allem, was ein Trivialspektakel auf der Bühne benötigt – Betrug und Liebe, Sehnsucht und Vernichtung, Verzeihen und Sterben. Geadelt wird dieser Schicksalskatalog par excellence von Felice Romani durch die Musik von Vincenzo Bellini, selig in fast jeder Note, markant bis zum großen Finale, leidend beim Ausleuchten der Charakterporträts. Hört man diese Partitur, weiß man, wo Giuseppe Verdi spezifische Anleihen macht. Die Frauen schneiden (wieder einmal) bei diesem Italo-Hit deutlich besser ab als der egoistische „Held“ Pollione – er nimmt sich die Damen, wie er sie benötigt. Er benutzt sie schamlos für seine Macht- und Sex-Zwecke. Aber er ist der große Verlierer.
In Essen bemüht sich das Regie-Duo Tobias Hoheisel (auch Bühne/Kostüme) und die namhafte Schauspielerin Imogen Kogge um eine „heutige“ Deutung. Dieser Versuch bleibt reichlich blass. Marschierende Chöre, Gesten, die man schon hundert und mehr Male gesehen hat, zuweilen zu wenig Profilschärfe für die Figuren, das Druiden- und Priesterthema wird zur Schablone. Dazu ein durch blauweißgraue Palisaden eingeengter, kaum historisch belegbarer Raum: eigentlich ein abstraktes Niemandsland für große Gefühle, für menschliches Scheitern und Hoffen, für ein tieferes Verständnis für weibliche Eigenheiten.
Während die beiden auftrumpfenden Konkurrenten, die Druidenheilige Norma (Katia Pellegrino) und Polliones neue Gespielin Adalgisa (Bettina Ranch), ihr Gefühlsleben extrovertiert aussingen, reicht es beim Tenor Gianluca Terranova als Römer Pollione oft nur zu robusten Vokalstatements. Er besitzt einen breit angelegten Belcanto-Tenor, differenziert aber zu wenig, um glaubhaft als Charakter zu wirken. Darstellerisch könnte er weit mehr investieren als bei der Premiere im praktisch ausverkauften Haus gezeigt. Mit den Frauenfiguren kann man dagegen mitleiden: Ihr Schmerz, ihr Verzicht, ihr Ringen um Gerechtigkeit und Liebe packen. Auch wenn das Duo Norma/Adalgisa ebenfalls viel gestische Beliebigkeit verströmt. Aber sein Gesang fühlt in fast alle Varianten des Schicksals und seinen Verstrickungen hinein.
Neben Katia Pellegrino und Bettina Ranch behauptet sich der dritte „Star“ dieser Eröffnungsproduktion am Aalto-Theater: der italienische Dirigent Giacomo Sagripanti legt die Noten Bellinis bei diesem monumentalen Hass- und Trauerspiel als exemplarische Oper des Ziergesanges aus, bei dem das Orchester – die Essener Philharmoniker behaupten sich mühelos im melodischen Zauber und in der dramatischen Zuspitzung – sich nicht mit einer Nebenrolle zufrieden geben muss. Entscheidende Impulse kommen eben nicht nur aus den Kehlen der Protagonisten, sondern bei Sagripanti aus der instrumentalen Basis. Bellini auf dem Höhepunkt – das bestätigt hier auch die Philharmonie.
Bei diesem Seelenschmelz können auch die übrigens Ensemblemitglieder punkten: Insung Sim als Oroveso, der die verhassten Römer aus dem Land jagen will, Liliana de Sousa als Clotilda oder Albrecht Kludszuweit als römischer Flavio. Der Chor (Jens Bingert) behauptet sich als anonyme Masse durch Bellinis Psycho- Musik.
Den Fehler, den die Gelsenkirchener bei ihrer aktuellen Norma-Inszenierung mit der Einführung einer „erklärenden „Sprechrolle“ machten, begehen Hoheisel/Kogge nicht. Aber sie tun dafür zu wenig, um ihrer Interpretation „ein Gesicht“, somit ein eigenes Profil zu geben.