Lucia di Lammermoor im Oper Bonn

Lucia in der Klapse

 Es ist nicht gerade üblich, dass eine szenisch schwer zu realisierende Oper wie Lucia di Lammermoor an ein- und demselben Hause in weniger als einem Dezennienabstand neu produziert wird. In Bonn ist dies jetzt aber der Fall. Die Entscheidung fiel aber nicht, weil man die missglückte Inszenierung von Silviu Purcarete (2007) endgültig der Vergessenheit anheim geben wollte, sondern weil man seit einiger Zeit mit der English National Opera auf besonders sinnvolle Weise kooperiert. Die Werkstätten des britischen Hauses sind nur begrenzt leistungsfähig, und da springt das gut ausgestattete Theater Bonn hier und da ein. Die auf diese Weise entstandenen Produktionen werden an beiden Spielstätten gezeigt. Zusätzlich bekommt Bonn als Dank eine englische Produktion „geschenkt“. Dabei werden natürlich Inszenierungen bevorzugt, die sich wiederum Bonn alleine nicht leisten könnte. Diese Zusammenarbeit soll ausgebaut und auf die Welsh National Opera in Cardiff ausgedehnt werden. Ausdrückliches Lob für diese kluge Initiative.

Die jetzige Wahl von Lucia erfolgte, weil Intendant Bernhard Hellmich von der Inszenierung David Aldens sehr angetan war. Außerdem gelang es ihm, die russische Sopranistin Julia Novikova, welche einige vergangene Spielzeiten in Bonn engagiert war (letzte Partie vor Ort: Bellinis Sonnambula) mit dem Angebot eines Rollendebüt zu locken. Die junge Sängerin wurde zu Recht stark gefeiert. Noch wirken nicht alle Spitzentöne, Staccati, Glissandi etc. voll ausgereift, aber vokale Fertigkeit und emotionale Subtilität sind schon jetzt stupend. Speziell die Wahnsinns-Szene, von den irisierenden Klängen einer Glasharmonika narkotisch begleitet, übt einen unwiderstehlichen Reiz aus.

Dem Dirigenten Jacques Lacombe liegt offensichtlich viel daran, die Lucia-Musik nicht über Gebühr zu verzärteln. Er geht sie mit geradezu Verdischer Wucht an, wobei er des „Knalligen“ mitunter vielleicht etwas zu viel tut. Aber Donizetti klingt auf einmal wirklich dramatisch blutvoll, Nebenstimmen gewinnen unerwartete rhetorische Qualität. In diesen Klangsog passt sich der von Marco Medved einstudierte Chor machtvoll singend ein.

Felipe Rojas Velozo hat in Bonn zuletzt den Rodolfo gegeben, mit sympathischer Vitalität und effektvollem Höhenglanz. Lyrische Finessen kamen dabei allerdings etwas zu kurz. Ähnliches ist über seinen Edgardo zu sagen. Der griechische Bariton Giorgos Kanaris ist bei den Bonner Musikfreunden offenkundig sehr beliebt, seine kontinuierliche Repertoireausweitung, welche Vielseitigkeit demonstriert, ist in der Tat vorbildlich. Für den sinistren Enrico wirkt seine Stimme indes noch etwas zu chevaleresk, auch wenn die Interpretation den Charakter insgesamt gut erfasst. Arturo hat nicht viel zu singen, das Wenige klingt bei Christian Georg überzeugend; auch der Normanno von Johannes Mertes wirkt stimmig. Susanne Blattert als Alisa ist vorhanden – mein Gott, was kann man bei dieser beiläufigen Rolle sonst sagen? Bleibt noch Martin Tzonev zu erwähnen, welcher den Raimondo bereits vor neun Jahren in Bonn verkörperte und für diese Partie jetzt erneut seinen felsenfesten Bassbariton einsetzt.

Es ist – zugegeben zögerlich - zur Regie zu kommen, von welcher Bonns Intendant meint, sie sei „sehr gut gelungen“ und vermöge, „eine wirklich packende Familiengeschichte zu erzählen, die eine für jeden nachvollziehbare Faszination ausübt.“ Der Rezensent bittet, von diesen „jeden“ ausgenommen zu werden. In der Alden-Inszenierung (von Ian Rutherford für Bonn aufgefrischt) sind fraglos einige interessante Interpretationsansätze auszumachen, so bei der Figur des religiös verbohrten, ständig die Bibel über dem Kopf schwingenden Raimondo oder der des höchst blasierten Arturo. Interessant auch die Andeutung einer inzestuösen Neigung Enricos zu seiner (wohl nicht von ungefähr leicht püppchenhaft gekleideten) Schwester, wie sie nota bene auch für Eva-Maria Höckmayrs Kölner Inszenierung (Juni 2016) prägend ist, hier sogar für beide Geschwister gilt. Ein Besuch der Wiederaufnahme im kommenden April ist auch wegen der Gesamtkonzeption nachdrücklich zu empfehlen. Als großen Wurf möchte man bei der Bonner Aufführung das Bühnenbild von Charles Edwards ansehen, dessen bleiche, leicht abgeblätterte Wände zu immer neuen und wirklich auch neu wirkenden Räumen umgestaltet werden können. Eine dezidiert historische Note bieten die Kostüme von Brigitte Reiffenstuel, bei denen Biedermeier ins viktorianische Zeitalter hinein spielt.

Die Vorgänge der Oper versteht David Alden nicht als real, er offeriert sie vielmehr als Theateraufführung von Insassen einer Heilanstalt, therapeutische Maßnahme in der Frühphase psychologischer Behandlung. Zu diesen Vorstellungen ist ein zahlendes Publikum geladen. Wirklich zwingend wirkt diese ohnehin etwas herbeigeholte Deutung allerdings nur bei der Wahnsinns-Szene, erfasst die Oper nicht in ihrer Gesamtlänge. Viele Vorgänge lassen mit Aldens Vorgabe einfach auch nicht einordnen. Man gewinnt im Verlaufe der Aufführung immer stärker den Eindruck, dass der Regisseur vor Donizettis Belcanto-Oper letztlich doch kapituliert und sich in szenischen Marginalien verliert.