Wackeln im Sturm
Troja ist kaputt. Syrien ist kaputt. Ithaka ist auch irgendwie kaputt, als Odysseus schließlich nach Hause kommt: Gattin Penelope ist längst belagert von Freiern, die den Palast und die Macht des Odysseus für sich reklamieren. Ob es Odysseus gelingt, die Heimat wieder zu seiner Heimat zu machen? Ob es den syrischen, afghanischen, irakischen Flüchtlingen gelingt, die Festung Europa zu ihrer Heimat zu machen? „No way to Norway“, singen die Gefährten des Odysseus, und: „We need to break the fence / that keeps us out of France.“ Frontex-Zäune und Orban-Mauern sind zu überwinden auf dem Weg der Flüchtlinge nach Europa, Abenteuer sind zu bestehen wie sie Odysseus und seine Gefährten nach dem erfolgreich bestrittenen Trojanischen Krieg zu bewältigen hatten, von dem auf der Bühne von Karel Vanhooren noch das Zitat eines Trojanischen Pferdes übrig geblieben ist.
Gregory Caers und seine Musikalischen Leiter David Pagan und Pieter-Jan De Wijngaert haben eine Rock-Oper geschrieben, die die Sage von der Irrfahrt des Odysseus mit den aktuellen Irrfahrten der Flüchtlinge über das Mittelmeer kurzschließt. Polyphem, der gefährliche Zyklop, wird zum Grenzwächter, Aiolos, der Gott der Winde, der laut Überlieferung den Griechen ein höchst ambivalentes Geschenk machte, zum unseriösen Fluchthelfer und Schlepper. Er verkauft den Heimatsuchenden das Boot, auf dem sie ihre Seemannslieder singen: ein winzig kleines Schlauchboot. Das schwankt und wackelt im Sturm, so dass sich die Gefährten nur unter Aufbietung all ihrer choreographischen Fähigkeiten aufrechthalten können. Und es verliert an Luft …
Bei Kirke erklingt antikengerecht, aber ironisch lieblicher Falsett-Gesang, bevor auf Vorschlag der Hexe eine wilde Party steigt. Die beginnt mit einer tollen Choreographie und wildem Tanz zur Rockmusik – und schwupps, verwandeln sich die Seefahrer in hechelnde Bestien. Vor den verführerischen Angeboten der Sirenen wird über Lautsprecher gewarnt – sind die Sprecher schon die Ordner und Helfer an den Grenzen Europas, die ersten Ansprechpartner der Flüchtlinge auf dem gelobten Kontinent? Odysseus jedenfalls kettet sich an. In der Strandbar Helios feiern die europäischen Touristen und die Einheimischen mit Schlagern und seichter U-Musik – Odysseus steht einigermaßen irritiert dabei. Doch als er sich in der oberflächlichen Partygesellschaft integrieren will, erhält er ein klares Signal: Du bist nicht willkommen. Es ist Ives Thuwis, der längste der sechs Darsteller, den wir auch als Choreographen vieler phantastischer Aufführungen mit multikulturell zusammengesetzten jugendlichen Tänzern kennen, der die Willkommenskultur verinnerlicht hat und Odysseus begrüßt: „Willkommen zu Hause.“ Doch zu Hause tanzen längst die Freier einen erotischen Tanz. Dass lautes Brüllen genügt, um sie vom Hof zu jagen, ist das einzige Bild der Aufführung, das ein wenig schwach wirkt.
So erleben wir denn in diesem Stück für Menschen ab 12 Jahren, wie Odysseus und seine nach und nach dezimierten Gefährten Gefahren bestehen, die denen, denen die Flüchtlinge des 21. Jahrhunderts ausgesetzt sind, ähneln – manchmal aufs Haar genau, manchmal wird von den Schülerinnen und Schülern, die die mitreißende Performance der sechs Darsteller hoffentlich in großer Zahl besuchen werden, eine eher schwierige Transferleistung verlangt. Die Rahmengeschichte wird jedoch auch denjenigen jungen und alten Zuschauern Orientierung geben, die niemals von Homers Odyssee und den griechischen Heldensagen gehört haben: Es ist die Geschichte von Telemach und dessen Sehnsucht nach der Rückkehr seines Vaters. Telemach war noch ein kleines Kind, als Odysseus in den Krieg zog. Kilian Ponert eröffnet die Aufführung mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mit dem Vater nach Beendigung des zehnjährigen Trojanischen Krieges. Doch die Irrfahrt des Odysseus wird weitere zehn Jahre dauern. Und daran sind nicht nur Kirke und Kalypso, Polyphem und Grenzpolizisten schuld: Odysseus selbst verliert oft genug sein Ziel aus den Augen. In der Unterwelt erscheint ihm Telemach im Traum – fordernd, klar im Kopf. „Dein Haus ist voller Männer“, ruft er ihm zu, und: „Hurry up, or your home will not be your home.“ Odysseus aber behandelt den Wunsch seines Sohnes weiterhin dilatorisch. Die Männer vermag er nach seiner Rückkehr noch herauszuwerfen. Doch möglicherweise verliert er seinen Sohn. Grandios ist die Choreographie, in der Simon De Winne und Kilian Ponert nach der Heimkehr des Vaters miteinander kämpfen: Es ist ein Kampf auf Biegen und Brechen, aber insbesondere bei Telemach auch der Kampf einer Hassliebe, einer verzweifelten, enttäuschten Zuneigung. Am Ende verlässt Telemach allein den Raum.
Die wichtigste Sprache, in der in dieser Koproduktion des Jungen Düsseldorfer Schauspielhauses, des städtischen Brüsseler Jugendtheaters BRONKS und der freien Gruppe Nevski Prospekt aus Gent gesprochen wird, ist die der Musik und der Choreographie. Die englisch- und deutschsprachigen Texte sind möglichst einfach gehalten. Musik und Choreographie dagegen sind vielseitig: Vor allem handelt es sich bei dieser „Odyssee“ um eine Rockoper, aber die Rockmusik wird ergänzt um Shanties und Schlager, Hiphop und liturgische Anklänge, Abba und Oper. Laut ist das oft, aber das passt nicht nur zum jungen Zielpublikum, sondern auch zu den wilden, ungehobelten Gesellen, die da über die Weltmeere schippern. Die sieben Darsteller schaffen großartige choreographische Bilder und Skulpturen, witzig oft, brutal manchmal. Allzu zart besaitet sollte man nicht sein, denn es sind halt harte Männer, die in der Odyssee zur Sache gehen: Da wird auch schon mal einem der Arm ausgerissen, da wird unmissverständlich angedeutet, welche körperlichen Reaktionen so eine Seefahrt auf schwankendem Boot auslösen kann. Aber auch die krasseren, gefährlichen Abenteuerszenen werden stets mit gewissem Abstand und Witz choreografiert, so dass sie auch junges Publikum nicht überfordern. Alles in allem ist das einfach mitreißend: Lehrer, packt Eure Schüler und guckt Euch das an!