Übrigens …

Lohengrin im Essen, Aalto-Theater

Massen, genauso verführbar wie Liebende

Marc Weeger baut einen sich nach hinten verjüngenden Raum, eng und mit Treppen ausgestattet. Dort mehr oder weniger hineingepfercht die Chöre des Aalto-Theater – nicht nur räumlich beengt, sondern scheinbar auch intellektuell. Da wird im eigenen Saft geschmort. Eine Umgebung in der es Agitatoren und Meinungsmacher leicht haben. Da gelingt es schon König Heinrich, den Almas Svilpa sonor und routiniert singt, mit ein paar Transparenten, schwarz-weißen Fahnen und einem Aufmarsch mausgrauer Bundeswehrsoldaten relative Begeisterung für den Krieg zu evozieren. Dabei wirkt er äußerlich eher wie ein Ministerialdirektor der Bonner Republik. Was kommt da besser zu Unterstützung als eine von einem Schwan hereingeführte Lichtgestalt, der sofort die Massen hinterher laufen: Lohengrin!

Tatjana Gürbaca hat diese Szenen mit unglaublich viel Personal auf kleinstem Raum fein choreografiert, spielt gekonnt mit dem Gegensatzpaar Individuum und Kollektiv und erklärt scheinbar so simpel und doch so kunstvoll die manipulative Beeinflussbarkeit von Massen. Jens Bingerts Chöre danken ihr die große Aufmerksamkeit mit einer ganz hervorragenden gesanglichen und darstellerischen Leistung.

Beim „Lohengrin“-Entrée verzichtet Gürbaca natürlich auf jedwedes Federn-Gedöns, sondern zeigt von vornherein, wer in dem Schwan steckt: Gottfried, der angeblich ermordete Bruder Elsas. Der ist verletzt, hat Blutspuren auf dem Hemd...

Die zweite große Stärke dieses Lohengrin liegt in Gürbacas Charakterausdeutung. All’ ihre Figuren haben sich auseinander zu setzen mit den Phänomenen, die ihre Welt in Stücke brechen lassen: Kriegsgeschrei und ein „Guru“.

Zu Beginn ist alles noch völlig in Ordnung. Elsa sieht in Traumbildern Telramund und Ortrud als liebevolle Pflegeeltern für sich und ihren Bruder – auch wenn der Graf vielleicht einen Blick zuviel auf Elsa wirft.

Dieser Telramund ist kein rachsüchtiger, gehässiger Machtmensch, sondern ein Mann, dessen Wertvorstellungen in Scherben brechen, der darob voll blindem Hass ist, nicht mehr weiß, was er tun und lassen soll. Heiko Trinsinger beglaubigt diesen zerrissenen Charakter mit großer Emphase, schleudert Wut und unterdrückte Emotionen stoßweise wie ein ausgebrochener Vulkan aus sich heraus.

Seine Frau Ortrud ist bei Gürbaca keine heidnische Hexe. Sie ist diejenige, die die gesellschaftlichen Umbrüche am besten kognitiv erfasst, da sie ja eh’ außerhalb der Hierarchien steht. Aber sie wird angetrieben durch die Liebe zu ihrem Mann, dem sie aus seiner Desorientiertheit helfen will. Karin Kapplusch transportiert diesen Spagat ganz wunderbar. Lediglich zum Ende hin wird ihre Stimme leicht flatterhaft, verzeihlich nach so viel geballt erzeugter Gefühlskomplexität.

Die größte Wandlung macht Elsa durch. Vom schwärmerisch verliebten Mädchen zur liebenden Frau: Wie sie im „Ehegemach“ Lohengrin versucht, das Geheimnis seines Namens zu entlocken, ist wirklich sehenswert. Da packt Elsa, die „Reine“ nämlich sämtliche Tricks weiblicher Verführungskunst aus. Jessica Muirhead macht diese Wandlung auch stimmlich erfahrbar. Sie beginnt sehr zierlich mädchenhaft, weiß sich aber zu steigern, packt mehr und mehr Farben und Kraft aus.

Daniel Johanssons Lohengrin ist alles andere als eine ätherische Lichtgestalt. Er ist vor allem erst mal Mann und Verführer, glaubt sowohl die brabantischen Massen wie die naive Elsa um den Finger wickeln zu können. Als er merkt, dass dem nicht so ist, beendet er seine Mission und schickt als Geschenk den Knaben Gottfried zurück als zukünftigen Führer. Der allerdings wankt als Zombie über die Bühne und ist wohl eher eine Gabe aus der Büchse der Pandora. Handelt so ein edler Heilsbringer? Johansson verfügt über Kraft, lyrische Qualitäten und eine in allen Lagen ebenmäßige Stimme – ein sauguter Lohengrin, auch wenn Stimmfetischisten natürlich an dem ein oder anderen Ton herummäkeln könnten. Das wäre aber ob der Gesamtleistung einfach unfair.

Gürbaca entwickelt ihre Figuren vor allem aus deren Interaktion. Das führt zu einem starken Schluss: Elsa hat durch ihre Frage nach Lohengrins Namen die  Erwartungen des Volkes enttäuscht, seinen Rausch zerstört. Und wer hält sie tröstend im Arm? Ortrud! Zwei Frauen, von ihrer Liebe beseelt, stehen nun außerhalb der Gesellschaft.

Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker wählen von Beginn an forsche Tempi. Dennoch geht nichts verloren von Wagners Partitur. Das schwere Blech kommt genauso differenziert daher wie starke Streicherpassagen. Und das alles harmoniert auf das Allerfeinste mit dem Geschehen auf der Bühne.

Vereint gelingen Netopil und Gürbaca mit ihrem Team ein vielschichtiger Lohengrin, der Emotionen freisetzt, zum Denken zwingt und zum Diskutieren einlädt. Das tut das Essener Premierenpublikum sofort: Buh-Rufe und begeisterter Applaus streiten miteinander. Wunderbar, denn so soll Musiktheater sein.