Charlotte Salomon im Bielefeld, Stadttheater

Das doppelte Charlottchen

Vor genau 100 Jahren, im April 1917, wurde Charlotte Salomon in Berlin geboren. Als Tochter eines jüdischen Chirurgen wuchs sie in einer gutbürgerlichen, liberal eingestellten Familie auf. Die Sozialprognosen müssen sehr positiv gewesen sein: Der erste Weltkrieg war bald vorüber, und noch war von dem Nahen eines Tausendjährigen Reiches, das sich die Ausrottung aller Juden zum Ziel gesetzt hatte, wenig zu ahnen. Doch es gab eine andere Bedrohung in Charlottes Familie – eine, die lange vor ihr geheim gehalten wurde: Zumindest die weibliche Linie hatte eine genetische Anlage zu schweren Depressionen. Am Ende war Charlotte das einzige weibliche Familienmitglied, das sich nicht das Leben nahm. Stattdessen wurde sie im Alter von 26 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

Als Charlottes leibliche Mutter sich umbrachte, war das Kind acht Jahre alt. Fünfzehn Jahre lang glaubte sie, ihre Mutter sei an Grippe gestorben. Sie bewunderte ihre Stiefmutter, die Mezzosopranistin Paula Lindberg, und verliebte sich in deren Gesangslehrer. Erst im Jahre 1939 floh die Jüdin nach Frankreich, wo ihre Großeltern bereits seit der Machtübernahme durch die Nazis im Jahre 1933 lebten. Das Verhältnis zu ihrem Großvater, mit dem sie später für kurze Zeit im Lager Camp de Gurs interniert wurde, war problematisch – bis hin zu Mordphantasien, über deren Umsetzung es nach wie vor Gerüchte gibt. Ihre Großmutter stürzte sich im Jahre 1940 aus Angst vor den heranrückenden Deutschen aus dem Fenster. Charlotte erfuhr nun von dem Selbstmord ihrer Mutter, ihrer Schwester sowie anderer Familienangehöriger und geriet in eine Sinn- und Existenzkrise. Quasi als Selbst-Therapie begann sie ihr Leben zu malen: 1352 Gouachen entstanden, von denen ca. 800 Eingang in das Werk fanden, das Charlotte Salomon berühmt machte: Leben? Oder Theater? Ein Singespiel. Dieser autobiographische Bilderzyklus ist versehen mit Texten sowie mit Hinweisen auf die Musik, die Charlotte Salomon schätzte oder die sie während ihres Lebens begleitete: Volksmusik, Oper, Klassik, Schlager. So entstand eine Art Drehbuch, eine Grundlage für einen Film oder ein Theaterstück.

Der französische Komponist Marc-André Dalbavie hat Motive aus diesem Werk zu einer Oper verarbeitet, die bei den Salzburger Festspielen 2014 uraufgeführt wurde. Regie führte der leider viel zu früh verstorbene Luc Bondy. Auch der Rest der Truppe war von exquisiter Qualität, doch der Erfolg des musikalisch wie dramaturgisch umstrittenen Werks war durchwachsen. Das Theater Bielefeld wagt jetzt das Nachspiel und vertraut die Regie einer jungen Nachwuchskraft an – einer Schauspiel-Regisseurin, die mit diesem schwierigen Werk ihr Opern-Debut gibt. Und siehe da: Mizgin Bilmens Inszenierung gelingt – und erntet teilweise Standing Ovations. Zu Recht, denn Bilmen liefert szenisch eine psychologisch intensive Ausdeutung, noch unterstützt durch das von harten Konturen geprägte Erscheinungsbild der Protagonisten, die einem expressionistischen Gemälde entstiegen sein könnten. Das macht optisch was her!

Marc-André Dalbavies Musik dagegen hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck. Sie wirkt im Wesentlichen sehr fragmentiert, eigentlich un-opernhaft weil ohne jeden großen Bogen. Und ohne spannungsvolle Entwicklungen. Wer beckmesserisch sein möchte, mag die Klangereignisse als „dümpelnd“ qualifizieren. Es wird auf jeden Fall viel aus der Musikgeschichte zitiert: aus Georges Bizets Carmen etwa (die „Habanera“) – oder aus Bachs Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach mit Bist Du bei mir, dem Chor, den Carl Maria von Weber im Freischütz zum Flechten des Jungfern-Kranzes erschallen lässt, dem gregorianischen Dies irae und – dem Horst-Wessel-Lied. Das ist gewiss ganz assoziationsreich gemeint. Aber einer geschlossenen kompositorischen Dramaturgie entbehrt diese Charlotte Salomon denn doch. Wenn es dagegen um die musikalische Umsetzung geht: die ist aller Ehren wert. Denn gesungen wird mehr als passabel. Von Hasti Molavian als Charlotte Kann, von Evgueniy Alexiev als ihr Gatte; Daniel Pataky, Evelyn Krahe und alle übrigen Vokalsolisten machen ihre Sache sehr gut. Ebenso die Bielefelder Philharmoniker, die Dalbavies Klänge farbenreich auffächern.

Noch weniger überzeugend im Vergleich zur Musik erscheint das Libretto von Barbara Honigmann. Die Schriftstellerin, auch sie Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, die aber den Krieg überlebten und nach Berlin zurückkehrten, hat für Dalbavies Oper im Wesentlichen die Texte von Salomons Bilder- und Text-Zyklus aufgehübscht, ein bisschen Rilke, Brecht und Kant eingestreut und ein paar Dialoge geschrieben, die das schlaue, aber auch verliebte Mädchen Charlotte manchmal arg naiv aussehen lassen. Aber Dalbavie und Honigmann haben die Person der Charlotte aufgespalten: in eine Erzählerin, die unter dem Namen Charlotte Salomon auf ihr Leben blickt, und eine Sängerin, die das Alter Ego der Künstlerin unter dem Namen „Charlotte Kann“ spielt. Mit der Besetzung der Erzählerin ist dem Theater Bielefeld ein Coup gelungen: Sie wird von Jana Schulz verkörpert, einer der stärksten und charismatischsten Persönlichkeiten des deutschen Theaters, die jede Rolle mit jeder Faser ihres Körpers zu durchdringen vermag. Sie nutzt den größeren, weil nicht an eine musikalische Partitur gebundenen Gestaltungsspielraum ihrer Figur - und siehe da: Charlotte bleibt mädchenhaft, aber alle Naivität ist wie weggeblasen. Jana Schulz gehören auch die ersten etwa zehn Minuten: Das Orchester bleibt stumm, und Charlotte Salomon schickt ihrem Werk eine Art künstlerisches Mission Statement voraus – einen Text, der aus den Aufzeichnungen Salomons stammt, aber nicht aus dem Zyklus Leben? Oder Theater?.

Das ist ein geschickter Schachzug der Regie: Ein halbwegs intellektueller Auftakt, der die literarischen Schwächen des Librettos auffängt. Denn was bleibt, ist trotz allem die etwas sprunghafte, nicht immer spannungsreiche Dramaturgie eines seltsamen Stücks. Der hilft die großartige Regie von Mizgin Bilmen jedoch auch in anderer Hinsicht auf die Sprünge. Bilmen erzählt lange Zeit eine märchenhaft anmutende Geschichte mit Hilfe hochmoderner Theatertechnik und wirkmächtiger visueller Effekte. Während des kompletten ersten Teils lässt sie hinter einem durchsichtigen Vorhang spielen. Auf und hinter diesem Vorhang projiziert Malte Jehmlich vom Krefelder Visual Arts Team sputnic, das auch die Videos zu den oft genialischen Inszenierungen von Kay Voges am Schauspiel Dortmund gestaltet, die Akteure in Großaufnahme und lenkt so den Blick des Zuschauers. Live-Aufnahmen und vorproduzierte Elemente werden geschickt ineinander geschnitten; vor allem aber flimmern auf Bühne und Vorhang auch Bilder aus Charlotte Salomons „Singespiel“ und andere assoziative Motive. Großartig ist die Lichtregie von Ralf Scholz, die zur Musik und zum Geschehen perfekte Stimmungen schafft und die einzelnen Figuren auch mal im Halbdunkel durch Handscheinwerfer ausleuchten lässt. Die Figuren selbst sind weiß geschminkt und puppenhaft angemalt und gekleidet – sie könnten unmittelbar den Bildern der Charlotte entsprungen sein. Nicht unbedingt vertrauenerweckende Gestalten sind insbesondere die Großeltern von Charlotte, die, bleich geschminkt und mit statischen, zeitlupenartigen Bewegungen, an Geister aus der Totenwelt erinnern. Olaf Haye als Opa wirkt kalt und bedrohlich – als Charlotte mit ihm gemeinsam im Lager interniert wird, deutet die Inszenierung sogar die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs an. Daniel Pataky gibt den Musiklehrer Amadeus Daberlohn vor allem zu Beginn als einen affig affektierten Weiberhelden – die harmonische Musik, die zu seinem ersten Auftritt erklingt, ist nur Ausdruck der Projektion der Charlotte, die in diesem eher unseriös wirkenden Mann ihre große Liebe zu finden glaubt. Jana Schulz und Hasti Molavian als doppeltes Lottchen zeigen die verschiedenen Facetten der Figur auf: Mal doppelt Schulz die Sängerin, mal nimmt sie sie schützend und stützend in den Arm, mal kontrastiert ihr Spiel zu dem ihres Alter Ego. Auf die Bedrohung durch die Nationalsozialisten reagiert die Schauspielerin resigniert, die Sängerin mit Wut und Protest.

Mizgin Bilmen spricht im Hinblick auf das gemeinsame Werk von einer „Familienaufstellung“. In der Tat gelingt ihr im Verein mit den manchmal düsteren, manchmal geheimnisvollen, manchmal flirrenden Bildern und den unaufdringlichen, aber atmosphärisch dichten Choreographien ein Psychogramm nicht nur der Künstlerin Charlotte Salomon, sondern ihrer ganzen Familie. Und nicht nur das: Spotlightartig leuchtet auch die tragische politische Situation auf, in der diese Familie aufgerieben wird – von dem Versprechen eines Lebens mit der Hochkultur, mit der die junge Charlotte bei einer Rom-Reise konfrontiert wird, bis zu den Schrecken der Internierung und des Lagers. Doch auch wenn da musikalisch schon mal ganz ungeniert die längst verbotenen morschen Knochen zittern: Der Blick auf die Außenwelt gerät ein wenig harmlos und illustrativ. Aber der birgt auch eine ganz andere Geschichte, die in Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? nur am Rande vorkommt. - Mit dem Leben war es schnell vorbei. Aber in dem etwas blutleer wirkenden Libretto haben Mizgin Bilmen, Malte Jehmlich und Ralf Schulz sowie das Bielefelder Darsteller-Team überraschend viel Theater gefunden.