Die schwarze Todeswand
Zofia Posmysz ist eine zierliche, alte Dame. Zofia Posmysz ist 93 Jahre alt. Sie hat die Vernichtungsmaschinerie des KZs Auschwitz-Birkenau überlebt. Fast zerbrechlich wirkt sie, als sie die Bühne des Musiktheaters im Revier betritt. Spontan erhebt sich das Publikum und erweist ihr, stehend Beifall spendend, seine Reverenz.
Vorausgegangen war ein zutiefst eindrücklicher Opernabend. 1962 veröffentlichte Posmysz ihre Novelle Die Passagierin. Dort beschrieb sie die Begegnung der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa mit einem ihrer Opfer während einer Ozeanüberquerung. Der Anblick von Marta zwingt Lisa, sich Stück für Stück mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Es werden Bilder heraufbeschworen, die Lisas Schuld offenbaren und ihr bisher geschöntes Bild langsam destruieren. Immer gut behandelt habe sie Marta, sagt Lisa zu ihrem Ehemann. Die Wahrheit, die ans Licht kommt, entlarvt sie als perfide, subtile Folterin: „Sie tötet durch fremde Hände“.
Mieczyslaw Weinberg, vor dem Nazi-Terror 1939 aus Polen in die Sowjetunion geflohen, schuf auf der Grundlage dieser Novelle 1968 seine gleichnamige Oper, die erst 2006 konzertant und 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde. Jetzt also eine Neuinszenierung in Gelsenkirchen. Und zu Beginn natürlich die bange Frage, ob es gelingen kann, das unfassbare Geschehen in Auschwitz in einer Kunstform wie der Oper zu verarbeiten.
Am Ende des Abends ist diese Frage uneingeschränkt mit „Ja“ zu beantworten. Das liegt zu allererst an Weinbergs unglaublich faszinierender Musik. Sie ist farbig und illustrativ. Weinberg erweist sich als Meister der Instrumentierung. Ganz fein arbeitet er Stimmungen heraus, wird niemals auch nur ansatzweise plakativ oder neigt zum übertriebenen Sentiment. Wir hören stille Verzweiflung, gellende Angst, tiefe Gefasstheit. Valtteri Rauhalammi setzt mit der hochkonzentriert agierenden Neuen Philharmonie Westfalen diese Musik kongenial um. Die Spannung wird immer wieder aufgebaut und gehalten. Jede Sequenz der Musik ist spür- und erfahrbar. Eine grandiose Leistung.
Die erbringt auch Regisseurin Gabriele Rech mit ihrem Team. In Dirk Beckers Schiffslounge, die mit massiven Wänden in Nussbaumdekor ausgekleidet ist, entwickelt Rech völlig unaufgeregt die Handlung, kann Gegenwartsszenen und Rückblicke glaubwürdig im selben Raum entstehen lassen. Die Emphase für Musik und Stoff zeigt sich in der Ruhe, die während des Geschehens die Bühne beherrscht. Rech vertraut ihren Darstellerinnen, gibt ihnen Zeit und Raum, mit wenigen Gesten Zusammenhalt, Mitgefühl zu entfalten. Wunderschön und gespenstisch zugleich ist die Liebesszene zwischen Marta und ihrem Verlobten Tadeusz, die für einen klitzekleinen Augenblick das Grauen des Lagers vergessen lässt. Dieses Grauen aber schwebt permanent durch den Raum, gerade weil Rech auf Gewaltdarstellung weitestgehend verzichtet. Renée Listerdal kleidet SS-Frau Lisa abwechselnd in Uniform und Abendkleid, das sie auch während der Rückblenden trägt. So wird das immer weitere Abgleiten in die Vergangenheit dezent symbolisiert.
Dieses Konzept gelingt auch deshalb so hervorragend, weil es auf der Bühne mit viel Herzblut und Können umgesetzt wird. Alexander Eberles Chor gestaltet Weinbergs dunkle Gesänge der Gefangenen von Auschwitz mit Perfektion. Piotr Prochera als Tadeusz entlockt seinem Bariton Töne unerbittlicher Standfestigkeit angesichts des Todes. Kor-Jan Dusseljee als Lisas Mann Walter ist vielleicht ein typischer Vertreter der deutschen Nachkriegszeit: fast hysterisch klingt sein Tenor, wenn es ihm um den unbedingten Willen zum Vergessen geht.
Hanna Dora Sturludóttir ist Lisa, die bis zum Ende meint, alles richtig gemacht und in Pflichterfüllung gehandelt zu haben, lässt ihren Sopran flackernd anschwellen, um das zu beglaubigen. Ilia Papandreous Marta strahlt in jeder Phase Würde aus. Ganz ruhig mahnt sie am Ende an, „dass niemals vergessen werden dürfe.“
Ganz stark an diesem Abend aber die Damen des Gelsenkirchener Ensembles. Almuth Herbst, Alfia Kamalova, Bele Kumberger, Silvia Oelschläger, Noriko Ogawa-Yatake, Christa Platzer und Anke Sieloff arbeiten Martas Mitgefangene mit großem Ernst und viel Sorgfalt individuell heraus und geben der anonymen Masse Gesicht und Stimme.
Und so gelten die Standing Ovations am Schluss nicht nur der Autorin Zofia Posmysz, sondern dem ganzen Ensemble – ein wichtiger Moment in einer Zeit, in der angebliche Politiker schon wieder ein Ende des Vergessens fordern dürfen.