Jephtha im Detmold, Landestheater

Ein folgenreicher Schwur

Es ist immer die Zivilbevölkerung, die im Krieg das Schlimmste abbekommt. Die Häuser der Menschen liegen in Schutt und Asche, Angehörige sind tot, es gibt nichts zu essen, vor allem Kinder und Frauen leiden – diese Bilder begegnen uns tagtäglich im Fernsehen. Jetzt auch auf der Detmolder Opernbühne, auf der die Israeliten gerade einen Angriff der Ammoniten befürchten müssen. Der aber kann abgewendet werden: Jephtha sei Dank!

Schon sind wir bei Georg Friedrich Händels Oratorium Jephtha, das Regisseurin Ute M. Engelhardt in ein „dramatisches Oratorium“ verwandelt hat, also in eine szenisch eingerichtete Musik für Chor, Solisten und Orchester. Dergleichen Versuche gab es immer wieder mal auch andernorts und mit anderen Oratorien – hier, bei Jephtha, funktioniert das ganz ausgezeichnet und schlüssig. Engelhardt schafft es virtuos, dem Klang der Musik eindrucksvolle und berührende Bilder an die Seite zu stellen, den Strom plausibler visueller Eindrücke nicht abreißen zu lassen. Ihre Jephtha-Version wirkt, als sei das Stück schon immer eine Oper gewesen, eine zeitlose noch obendrein. Denn kriegerische Mechanismen wirken prinzipiell heute noch genauso wie zu biblischen, zu Jephtha-Zeiten.

Wobei es gar nicht einmal der Krieg selbst ist, der im Zentrum des Interesses steht – vielmehr eben dieser Jephtha, der, von seinem Halbbruder Zebul ins Spiel gebracht, die Israeliten zum Sieg führen soll, was ihm auch gelingt. Das Volk jubelt und preist den heroischen Anführer. In diesem Moment ist rund eine Stunde Spielzeit vorüber – eine durchaus spannende. Aber jetzt beginnt das eigentliche Drama, denn Jephtha hat seinem Gott geschworen: würde er die Schlacht gewinnen, wäre die erste Person, der er bei seiner Rückkehr begegne, ein lebendiges Opfer an jenen Gott. Und wer war diese erste Person? Jephthas eigene Tochter Iphis – seine einzige! Iphis‘ Mutter (und Jephthas Gattin) Storgè rebelliert ebenso gegen die tödliche Konsequenz dieses Gelübdes wie Hamor, jener Krieger, der sich in Iphis verliebt hatte, bevor es für ihn in den Krieg ging und aus dem er nun völlig traumatisiert nach Hause zurückkehrt. Auch Zebul versucht, den an seinem Versprechen unbeirrbar festhaltenden Kriegsherrn umzustimmen – erfolglos: Iphis wird mit Benzin übergossen und geht in den Tod. Übrigens voll und ganz aus der Überzeugung heraus, es sei richtig, dass Jephtha seinen Schwur nicht revidiere („Dem lebendigen Atem will ich gern entsagen“). Also kein deus ex machina, der das Blatt in letzter Sekunde wendet und ein Happy End herbeiführt. Entsprechend die letzten, dem Chor vorbehaltenen Worte, mit denen Ute Engelhardt dieses Opern-Oratorium beschließt: „Was auch geschieht: es ist richtig!“

Etliche Interpreten sehen in Jephtha, dem letzten von Georg Friedrich Händel vollendeten Werk, eine Auseinandersetzung des Komponisten mit seinem eigenen Schicksal - dem seiner Erblindung, der kein Einhalt zu gebieten war. Da hilft kein Gott, allenfalls ein Wunder, das hier indes ausbleibt.

Die szenische wie musikalische Umsetzung gelingt dem Regie-Team durch und durch überzeugend. Da ist ein Chor, der in den Massenszenen punktgenau agiert und großartig singt, da sind vor allem fünf Solisten, die am Premierenabend mit jeder Faser sowohl ihrer Körper als auch ihrer Stimmen „mittendrin“ sind im Geschehen: Michael Zehe als (in der gesamten Handlung nicht ganz so wichtiger) Zebul mit sattem, raumgreifenden Bass. Countertenor Alin Deleanu macht als vom Krieg „beschädigter“ Hamor nicht nur vokal, sondern vor allem auch schauspielerisch deutlich, was der Krieg mit einem Menschen anrichten kann. Seine Stimme ist nicht (wie oft bei Countern) die eines extraterrestrisch-körperlosen Engels, stattdessen wirkt Deleanu wie ein handfest Geerdeter, der dann als ein Gebrochener endet, dem das Liebste genommen wird. Gleiches gilt für Lotte Kortenhaus als Mutter und Gattin Storgè, die mit ihrem schön timbrierten Mezzo alle Gefühlswallungen des Dramas zu transportieren in der Lage ist. Simone Krampe ist für die Rolle der Iphis eine Idealbesetzung: sie singt mit einer großen Natürlichkeit, dynamisch und ausdrucksmäßig sehr flexibel und emotional berührend – vor allem gegen Ende, wenn sie, Jephthas Schwur treu folgend, gehorsam in den Tod geht, um ihr Volk zu retten. Krampe ist seit dieser Spielzeit Mitglied im Opernstudio des Landestheaters Detmold – und schon jetzt auf der großen Bühne ein echter Gewinn! Last but not least gilt es Stephen Chambers zu preisen. Seit 2015/2016 fest im Detmolder Ensemble, begeisterte er bereits als David in Richard Wagners Meistersingern. Händel ist natürlich etwas ganz anderes – aber auch in diesem Repertoire mit all seinen ästhetischen und technischen Anforderungen ist er voll und ganz zuhause, verfügt bis in die Höhen hinein über einen ebenmäßig geführten Tenor ohne jeden Bruch und beglaubigt auch dank seiner Bühnenpräsenz die Spannungen, mit denen Händels Titelheld konfrontiert wird. Allen fünf Solisten gemeinsam ist der durchaus spielerisch leichte Umgang mit den teilweise doch recht kühn angelegten Koloraturen, die Händel ihnen zumutet. Bravo!

Lutz Rademacher ist der Dirigent dieser Inszenierung – und steht vor einem Orchester, das zwar kein „Experten-Ensemble“ für Barockmusik ist und sein kann, seine Sache dennoch sehr ordentlich macht. Die Klangfarben (Streicher/Bläser) mischen sich gut, das Federnde der Musik kommt zur Geltung, die Rezitative sind farbig und abwechslungsreich arrangiert. Und für Expressivität in den oft klagenden Momenten dieser Partitur ist stets gesorgt. Hier und da klappert es bei der Premiere noch im Hinblick auf die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne, manches vibratolos von der Solo-Violine im Verein mit der Flöte gestaltete Rezitativ klingt (noch) etwas gewollt historisch gemeint. Das wird sich geben!

Insgesamt ist dieser Jephtha ein toller Erfolg für das Detmolder Haus – und für das Regie-Team rund um Ute M. Engelhardt.