Übrigens …

The Gospel According to the Other Mary im Oper Bonn

Maximalistisch statt minimalistisch

Die Bonner Oper geht einen vorbildlichen Weg. Sie bietet primär zwar weiterhin Eigenproduktionen an (unverzichtbar für das Selbstwertgefühl eines Hauses), setzt aber doch verstärkt auf Kooperation, deren kostensparender, aber auch künstlerischer Nutzen sicher nicht eigens begründet werden muss. Zusammen mit Linz wird demnächst Othmar Schoecks Penthesilea in Angriff genommen, mit Nizza Benjamin Brittens Death in Venice. Dieses Werk wird in der Rheinstadt aufgrund bestimmter lokaler Planungen (u.a. Beethoven-Fest zum 150. Geburtstag des Komponisten) freilich erst 2022 zu sehen sein, so die Auskunft des Intendanten Bernhard Hellmich. Aktuell ist die Übernahme einer Produktion von John Adams‘ The Gospel According to the Other Mary bei der English National Opera.

Das Werk ist in enger Zusammenarbeit mit Peter Sellars entstanden, zunächst in seiner Funktion als Librettist, keine Überraschung angesichts einer jahrzehntelangen künstlerischen Freundschaft. Obwohl szenisch konzipiert (i. G. etwa zu Bachs Passionen, welche gleichwohl gelegentlich inszeniert werden - u.a. von Sellars), fand die Premiere zunächst konzertant statt, und zwar 2012 unter Gustavo Dudamel in der Walt-Disney-Hall von Los Angeles mit anschließender CD-Produktion. Am gleichen Ort gab es im März des Folgejahres eine halbszenische Aufführung, welche durch viele Städte tourte. Szenisch vollgültig wurde das Werk 2014 aber erst an der ENO durch Sellars herausgebracht. Auch für die Bonner Übernahme zeichnet er verantwortlich.

Konzertante Aufführungen gab und gibt es freilich immer noch. Neben einer aus Amsterdam zum Kölner Acht-Brücken-Festival 2016 transferierten Darbietung durch das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra unter Markus Stenz wurde vor allem die Berliner Aufführung im Januar desselben Jahres stark beachtet. Unter Simon Rattle spielten die dortigen Philharmoniker. Die Musik wurde übrigens nicht nur gelobt. In „Kultura-Extra“ war zu lesen: „Das Werk ist einfach maßlos, und vielleicht ist das der Grund, warum es musikalisch kaum erregt“. Bei „hundert 11“ hieß es differenzierter:„Sehr anstrengend, völlig überfrachtet, stellenweise peinlich - (dennoch) eine Wucht“.

Zum Stück sei Peter Sellars zitiert. O-Ton Bonner Theaterzeitung: „Es geht um Armut und das, was jenseits von Geld im Leben erstrebenswert ist. Dabei wird die Leidensgeschichte Jesu durch die Augen der Frauen erzählt, die mit ihm lebten. Man erhält einen tiefen Einblick in Dimensionen sowohl von Menschlichkeit als auch von weiblicher Spiritualität.“ Es sind also starke Frauen, welche das Werk von Adams/Sellars bestimmen. Das Libretto basiert auf Passagen des Alten und Neuen Testaments, in welche Textfragmente der Jetztzeit eingearbeitet sind, wobei von deren Autoren pars pro toto die amerikanische Sozialistin und Frauenrechtlerin Dorothy Day namentlich erwähnt sei. Keine bibelfeste Nacherzählung somit, sondern ein Sujet-Mix von betont weiblicher Sicht, dezidiert verwoben mit der Thematik moderner Frauenbewegung. So viele Vorlagen haben zwangsläufig eine gewisse interpretatorische Schwerlastigkeit zur Folge. So ist schon mal die Inhaltsangabe im Bonner Programmheft (Textübernahme von ENO) weniger konkretisierend als assoziativ schweifend, was auch für die Übertitel, von denen man auch deswegen irgendwann Abschied nimmt, um den Bühnenvorgängen konzentrierter folgen zu können.

Freilich gibt es auch bei diesen Problemzonen. Die Bühne von George Tsypin (raumeinhüllende, helle Stoffe, gelegentliche Projektionen menschlicher Körperteile, u.a. die Gotteshand Michelangelos, dazu seitliche Gitterwände mit Stacheldraht) lässt tiefere Aussagekraft nur bedingt erkennen. Die Regie von Sellars erlebt man zudem qualitativ zweigeteilt. Es beeindruckt nachhaltig, wie extrem hautnah die Darsteller oft miteinander agieren, aber mitunter irritiert die oratorische Statuarik der Inszenierung, welche freilich teilweise mit gestischer Hektik zu kaschieren versucht wird. So vor allem erlebbar in den Chorintroduktionen der beiden Teile.

Besser wird die (natürlich zwangsläufig vorgegebene) Langsamkeit der Vorgänge dadurch kompensiert, dass vier Tänzer mit diversen Rollenwechseln in das Geschehen integriert sind (Iamnia Montalvo Hernandez, Carmen Canas, Keisuke Mihara, Erik Constantin). Damit ist allerdings keine psychologische Plausibilität beabsichtigt, eher eine Aufforderung zum Nachsinnen über Gesehenes. Die stärkste Szene ist zweifelsohne der Tod von Jesus vor dem Angesicht Maria Magdalenas. Hier zelebrieren zwei aufeinander liegende Tänzer das nahezu endlose Sterben in flirrender Choreografie und mit einer zu Tränen rührenden Intensität. Großartig ist (übrigens auch musikalisch) lange zuvor die Szene des wiedererweckten Lazarus. Er ist der Bruder von Maria Magdalena sowie ihrer Schwester Martha, welche in der biblischen Überlieferung fast gänzlich anonym bleibt, jetzt aber das Geschehen stark mitdominiert.. Über das etwas kitschig auflichtende Finale („It is spring“) könnte man sich mokieren.

Man registriert bei Adams noch immer einen musikästhetischen Kontakt zum Rock, auch zum Songstil der Beatles, welcher die Jugendjahre des Komponisten prägte. Das vertrug sich für den Komponisten einfach nicht mit dem seinerzeit vorherrschenden Zwölfton-Dogmatismus. Ein Journalist scherzte über die heutige Musik von Adams mit dem Wortspiel „maximalistisch statt minimalistisch“. Unter der energischen Leitung der Australierin Natalie Murray Beale werfen sich der Chor Der Bonner Oper (Marco Medved) und das Beethoven Orchester engagiert in ihre Aufgaben. Freilich ist zu punktuell merken, dass es sich für beide Teams um untypische Herausforderungen handelt. Die musicalartig zackigen Bewegungen der Sänger geraten nicht immer ganz synchron, bei den Orchestermusikern hapert es verschiedentlich an Präzision.

Die Altistin Ceri Williams (Martha) gehört zum Bonner Ensemble: pastose, klangvolle Stimme mit emotionaler Vibration. Um einige Grade mezzoheller verkörpert Christin-Marie Hill die Maria Magdalena, ebenso ausdrucksstark wie kantabel. Für den Lazarus ist der Tenor Ronald Samm eine auf den ersten Blick über Gebühr stämmige Erscheinung, aber er weiß seine gleißende Otello-Stimme vokal empfindsam einzusetzen. Ein Trio von Countertenören (bei William Towers, Benjamin Williamson und Russell Harcourt lassen sich durchaus unterschiedliche Timbres ausmachen) füllt den evangelistenartigen Erzählpart aus und steht gleichzeitig für die Figur von Jesus, welchen die Autoren offenkundig visuell nicht konkretisieren wollten.

Der Bonner Oper ist für die Begegnung mit diesem szenisch ungewöhnlichen, musikalisch weitgehend suggestiven Werk ein ausdrückliches Kompliment zu machen. Dass The Gospel According to the Other Mary teilweise in einem Atemzug mit Bachs Passionen genannt wird, darf man freilich als zu weit gegangen empfinden. Zumindest beim Meinungsaustausch während der Bonner Premiere wurden unterschiedliche Einschätzungen erkennbar.

Die so weit zu sehen nächste (konzertante) Aufführung steht übrigens für den März 2018 im Kennedy Center Washington an. Gianandrea Noseda wird das National Symphony Orchestra leiten.