Die Melodie der Großstadt
Es geht hin und her: zwischen „Ruhleben“ und „Schlesisches Tor“, zweier Bahnhöfe der Berliner U-Bahn-Linie 1. Dazwischen liegen Welten, bevölkert von völlig unterschiedlichen Typen Mensch, die alle mal die U-Bahn nutzen: Yunkies, reiche Witwen, Obdachlose, „wichtige“ Business-Upcomer, gescheiterte Existenzen… Welten, denen das namenlose Landei, das von zuhause ausgebüchst ist, zuvor noch nie begegnet war – und die doch so real existieren und dem Mädchen eine völlig neue Wahrnehmung vom Leben schlechthin und seinen gänzlich verschiedenen Ausprägungen beschert. Sowohl 1986, dem Jahr, in dem das Musical Linie 1 im Berliner GRIPS-Theater uraufgeführt wurde, als auch heute, mehr als dreißig Jahre später!
Linie 1 ist eine Erfolgsgeschichte für den Komponisten Birger Heymann und den Verfasser der Texte Volker Ludwig. Noch immer zieht das Stück magnetisch sein Publikum an, in Berlin – aber auch in etlichen anderen europäischen und außereuropäischen (!) Ländern. Und dies trotz (oder gerade wegen) einer Story, in der von Errungenschaften wie Handies, Laptops, Apps oder dergleichen noch keine Rede war. Nein, Linie 1 ist sicher ein sehr zeitbedingtes Stück. Funktioniert aber auch im Jahr 2017. Denn was unser Landei in der Hauptstadt erlebt, daran hat sich prinzipiell nicht viel geändert. Außer, dass die Zustände inzwischen, nach dreißig Jahren, noch etwas schlimmer, etwas krasser, etwas aggressiver geworden sein mögen.
Das Mädchen aus der westdeutschen Provinz ist in der Großstadt, um ihren Liebsten zu finden. Der hat ihr jedoch eine falsche Adresse angegeben. Auf ihrer Suche könnte sie auch heute noch auf diese Typen stoßen. Da ist der stets gut gekleidete Rentner, der von Sozialhilfe lebt und ein beklagenswerter Mann, der seiner Frau nichts Recht machen kann; das Ehepaar, dass über „Kanaken“ herzieht und ein Mädchen, das verzweifelt eine Lehrstelle sucht und sich schließlich vor die U-Bahn wirft.
Die „Wilmersdorfer Witwen“ sind ewig Gestrige, die von den guten Seiten des Faschismus schwärmen. Sie treffen auf ein Opfer des NS-Regimes. Dann taucht ein Einsamer auf, dessen Lebenssinn darin besteht, andere Menschen zu beobachten und sich Geschichten über sie auszudenken. Und da sind die gutherzige Buletten-Trude und eine reiche Immobilienmaklerin, die vom Leben einfach nur angekotzt ist und sich mit Koks tröstest. Sie alle steigen ein in die Bahn und verschwinden wieder. Kurze Begegnungen, in denen Themen angesprochen werden wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus. Es geht um Egoismus, Einsamkeit und Anonymität. Das kommt uns irgendwie bekannt vor. Genau deshalb funktioniert Linie 1 auch heute noch, obwohl sich Dank Smartphone-GPS die Frage nach dem Weg erübrigt hat.
Es funktioniert auch wegen der abwechslungsreichen 80er-Jahre-Musikmischung, die taufrisch daher kommt. Die fünfköpfige Band unter Heribert Fecklers Leitung bringt sowohl den Rocksong als auch die Folk-Ballade sehr authentisch rüber. Und wenn die Witwen ihren rechten Hetzmarsch anstimmen, gibt es kein Halten mehr.
Regisseur Carsten Kirchmeier und seinem Team genügen eine rollende U-Bahn-Bank und zwei Metallgerüste, um Szenen abzugrenzen und ihnen einen Rahmen zu geben. Paul Kribbes wunderbar „unaufgemotzte“ Choreographien halten die Handlung stets im Fluss.
Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung aber ist das großartige Darstellerteam. Alle haben großen Spaß, agieren im besten Sinne miteinander und schlüpfen mit Begeisterung in die unterschiedlichsten Rollen. Und darüber hinaus wird durch die Bank sehr gut gesungen.
Eine Leistung, die in der Tradition des kollektiven Entwickelns und Spielens des GRIPS-Theaters steht. Jeanette Claßen, Jacoub Eisa, Annika Firley, Yvonne Forster, Joachim G. Maaß, Edward Lee, Benjamin Oeser, Christa Platzer, Gudrun Schade, Sebastian Schiller und Dirk Weiler verkörpern sie geradezu.
Dieses tolle Ensemble macht Linie 1 zu einem rundherum gelungenen Musicalerlebnis und wird vom Publikum begeistert gefeiert.