Vom röhrenden Hirsch und entwurzelter Eiche
Standhaftigkeit, Treue, Beständigkeit: Tugenden eines erwachenden Nationalbewusstseins, die sich manifestieren in einem Baum – der deutschen Eiche. Und dann das: da knallt der Jungfer Agathe ein ebensolches Exemplar frecherweise aufs Dach und zerstört das behütete Heim. Soviel zum Thema Standhaftigkeit!
Regisseur Carlos Wagner und sein Ausstatter Christophe Ouvrad machen diese Entwurzelung gleich zu Beginn auf der Bühne sichtbar. Damit ist das Konzept ihres Freischütz’ auch schon skizziert. Weniger geht es um eine sich entwickelnde Deutung oder um psychologische Aspekte. Wagner und Ouvrad knüpfen einen wunderbaren Ideenflickenteppich, spielen lustvoll mit Klischees und Vorurteilen. Augenzwinkern und Ironie sind angesagt und nicht tiefschürfende Grübeleien und Gedankenschwere. Und der Abend funktioniert auf das Beste. „Es geht auch anders, aber so geht es auch“.
Zur Ouvertüre lässt sich ein projizierter Siebzehnender blicken, der dann natürlich auch erjagt und fachgerecht zerlegt vom allgegenwärtigen Samiel unters Jagdvolk geworfen wird. Gut, dass über dem Orchester ein Schutznetz gespannt ist. Sonst hätte eine burschikos in die Runde geworfene flache Rippe glatt die Ersten Geigen schon am Premierenabend dezimiert.
Ein Knackpunkt jeder Freischütz-Inszenierung ist das Gießen der Freikugeln in der Wolfsschlucht. Einem Publikum des 21. Jahrhunderts ist eine tiefgruselige Situation mit Bühnenzauber nicht mehr zu vermitteln. Wagner griff in einer bipolaren Anspielung zurück auf Tom Waits’ Musical The Black Rider, das auf dem Freischütz beruht. Max erbricht die Kugeln nach dem Trinken einer nach grausligem Rezept zusammengestellten Flüssigkeit. Und das ist für uns Heutige sicher furchterregend genug.
Aber dennoch ist Carlos Wagners Freischütz keiner, der Webers Oper etwa persifliert. Hier wird schon genau hineingehört. Vor allem die Ängste von Max und Agathe, ob des drohenden Scheiterns ihrer Liebe (hatte sie jemals eine realistische Chance?), arbeitet das Regieteam heraus und hört tief hinein in die Figuren. Und Sara Rossi Daldoss und Mirko Roschkowski machen es ihnen da sehr leicht. Denn beide geben alles. Roschkowski gestaltet „Durch die Wälder, durch die Auen“ mit strahlkräftigen Tenor voller Selbstzweifel und Rossi Daldoss glänzt mit angstdurchtränkten lichten Höhen in „Wie nahte mir der Schlummer“. Für diese, das Publikum elektrisierende, Emotionen bedarf es keiner großen Bilder. Auch Gregor Dalal als Kaspar punktet mit tiefer Schwärze.
Bei soviel Ernst kommt Eva Bauchmüller als Ännchen als Lichtstrahl daher. Koloratursicher sowieso, aber endlich mal nicht als plapperndes Dummchen, sondern als selbstbewusste Frau, die mit dem Jagdgewehr mindestens genauso gut umgehen kann wie die Männer!
Punkten kann diese Inszenierung nicht nur mit den Solisten, sondern vor allem mit der Rolle des Sinfonieorchesters Münster! Stefan Veselka, Erster Kapellmeister am Haus, steht am Pult. Und formt Carl Maria von Webers Musik zu einem lebendigen, spannungsvollen Klangkosmos, der den je unterschiedlichen Atmosphären instinkthaft genau schon während der Ouvertüre nachspürt. Gruselige Düsternis und schenkelklopfend Folkloristisches, introvertiert Fragendes und überschäumend Jubelndes – Veselka findet stets den richtigen Ton und kann sich auf sein Orchester verlassen. Soli vom Cello, vom Horn, von der Flöte, der Klarinette, dem Ensemble der Blechbläser... da ist alles zum Besten bestellt. Lediglich bei Inna Batyuks Chören wirkt vieles am Premierenabend stimmlich noch etwas zu rustikal.
Der Freischütz erweist sich als absolut erfreulicher Abend für das Musiktheater Münster.