Übrigens …

Einstein on The Beach im Dortmund, Oper

Wo es herkommt

Einstein on the Beach war Philip Glass‘ erste Oper - und die einzige, die keine Auftragsarbeit war, also keinen Markt, kein Image zu bedienen hatte. Nicht nur deshalb ist hier sein wohl radikalstes Werk entstanden. Zusammen mit dem Regisseur Robert Wilson und der Choreographin Lucinda Childs wollte Glass dem europäischen Way of Musiktheater dezidiert etwas Eigenes entgegensetzen, ohne Spätromantik, ohne Serielles, vor allem ohne erzählte Geschichte auf der Bühne. Das zog das Trio 1976 mit ihrer Uraufführungsinszenierung, die alle Jubeljahre wieder aufgenommen wird und zuletzt etwa 2014 in Berlin zu sehen war, mit aller Strenge durch. Da bewegten sich Menschen mit weißen Hemden und Hosenträgern ausdrucksleer sprechend und singend in abgezirkelten, nach Abstraktion strebenden Bewegungen über die blaugraue, von wenigen großen Bildern momentweise verklärte Bühne. Kein Inhalt außer ein klein wenig Albert Einstein. Reines Theater. Reine Musik. Reiner Tanz. Sozusagen.

Kay Voges macht das jetzt in Dortmund vollkommen anders. Er sucht die Assoziationsräume durchaus, die durch diese Leere entstehen, aber er fährt selber hinein und stachelt das Fantasie- und Erinnerungsvermögen auf allen Ebenen bewusst an - der Theatermacher als Abstraktionsanimateur. Auf Pia Maria Mackerts eigentlich recht frugal eingerichteter Bühne geht es erstaunlich bunt zu. Voges zeigt, wo es herkommt, bedient sich lustvoll in den 70ern und in der Popkultur, von psychedelischen Bildwelten bis hin zu Star Trek. Und er beschädigt dabei, was ihm hoch anzurechnen ist, die musikalische Dramaturgie nicht, jene Anordnung von Patterns, kleinen, in jeweils mikroskopischer Abwandlung scheinbar endlos wiederholten Motiven. Vielmehr legt er sie durch etliche visuelle Zeichen offen und öffnet so die Zuschauerohren für ein rauschhaftes, von handverlesenen Instrumentalsolisten, dem hochengangierten ChorwerkRuhr und den Sängern Hasti Molavian, Ileana Mateescu und Hannes Brock unter Florian Helgaths gelassener Leitung bereitetes einmaliges Klangerlebnis, dass auch den vielen in Einsteinmaske im Orchestergraben werkelnden Tontechnikern und Klangmagiern zu danken ist.

Die Musik befolgt Voges, auf dem Theater geht er eigene Wege. Seine beiden Sprecherinnen agieren in keinem Moment ausdrucksfrei, verführen, locken geradezu zum Assoziieren, die Bilder sind sehr konkret, scheinen etwas bedeuten zu wollen, auch wenn sie sich der Eins-zu-Eins-Interpretation entziehen und manchmal, etwa in den wilden Begriffs- und Formelfolgen auf der Übertitelungsanlage in den nicht nur visuellen Overkill führen. Dafür ist alles greifbar für die Sinne, das optische Design überwältigt einfach und es entstehen immer wieder kostbare Augenblicke, am schönsten vielleicht, wenn die Sprecherinnen Bettina Lieder und Eva Verena Müller in fast erotischer Zwiesprache zu Sopransaxofonist und Bassklarinettist in berührungslosem Doppel-Pas de deux über die Bühne gleiten. Und Voges hat ins Stück eingegriffen, natürlich, hat hier und da ein wenig gekürzt und für die beiden szenisch nicht vorkommenden Gerichtsverhandlungen und die Tanzszenen eine Figur hinzuerfunden, eine Brücke nach - oder besser von - Europa geschlagen. Der Schauspieler Andreas Beck tritt im Affenkostüm auf, gleichsam als Vorfahr an sich, spricht Luckys Text aus Warten auf Godot und ein paar Zeilen aus einem psychiatrischen Fachbuch der 60er. Er tut es auf deutsch, mit sonorer Stimme und sorgt so für die nötigen Ruhepunkte und ein ganz klein wenig klassische Wortkomik. Und am Ende setzt er die Maske ab und rezitiert die kleine Liebesgeschichte des Originals in deutscher Übersetzung. Dann kommt noch einmal der Geiger im Einstein-Kostüm und es wird still.

Was haben wir gesehen? Einen großen Abend? Was wurde uns erzählt? Nichts über Einstein, über Kernphysik und Relativitätstheorie, aber da war das schon, wie so vieles andere, das riesige tanzende Hirn, die körnigen, von den Perlenschnürvorhängen durchbrochenen Blicke aus dem fahrenden Zugfenster, die gewaltigen Beleuchtungskaskaden, die im Wind flatternden Kleider und die uralten pastellfarbenen Wassermänner. Ein großer Abend.