Auf kleiner Flamme
Der Mann war schon zu Lebzeiten eine Legende. Er bewegte und berauschte die Massen. Nicht als Regent oder Heerführer, sondern als Musiker, Komponist. Das hatte es in dieser Form noch nicht gegeben: Ein Schöpfer von Kunst wird zur ikonischen Figur ganzer Generationen. Der Meister der Grand Opéra, Giacomo Meyerbeer, füllte die Theater Abend für Abend, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Und das nicht nur im Paris des 19. Jahrhunderts, sondern weltweit. Jakob Liebmann Meyer Beer, so sein eigentlicher Name, im Todesjahr Mozarts (1791) hineingeboren in eine wohlhabende jüdische Familie, findet den Weg aus dem biederen Preußen in die französische Metropole. Walter Benjamin schrieb später, Paris sei damals die Hauptstadt Europas gewesen – Meyerbeer machte sie mit seinem untrüglichen musikdramatischen Bühneninstinkt zum Nabel der Opernwelt.
Natürlich schwebt auch ein solcher Genius nicht in luftleerem Raum. Der Weg zu seinen Hauptwerken, Robert Le Diable, Les Huguenots und Le Prophète, führte über die italienische Opéra seria (etwa Rossinis Wilhelm Tell) und über Aubers Die Stumme von Portici als maßgebliches französisches Werk. Auch findet die Tradition des Belcanto Eingang in Meyerbeers Werk und die Düsternis von Webers Freischütz. All diese Einflüsse fügen sich indes zu einer gänzlich neuen Art der großen dramatischen Oper, bisweilen in radikaler Zuspitzung. Die Chöre als bedrohliches Subjekt, die Solisten, mit ihren privaten Sehnsüchten und Ängsten verstrickt in einem Geflecht von Macht und Wahn, blutrünstige historische Szenarien und kleine Idyllen – solcherart emotionsgeladene Tableaus suchten ihresgleichen.
Meyerbeer wuchtete Ereignisse der Geschichte auf die musikdramatischen Bretter, wenn auch oft in der Form der Kolportage, um sich die Zensur vom Hals zu halten. Zugleich aber leuchtete er seine Figuren psychologisch aus. Er schrieb für ein riesiges Orchester, manchmal, um groß aufzutrumpfen, oft aber, um mit ungewöhnlichen Klangfarben Stimmungen nachzuzeichnen. Der Komponist berührte und überwältigte. Ballettszenen sorgten für zusätzlichen Reiz und, nicht zuletzt, die aufkommende Elektrifizierung und Technisierung der Bühne. Ein musikalisches Monument namens Gesamtkunstwerk ward geboren.
Das alles hatte seine Zeit – und machte, nebenbei gesagt, Meyerbeer zum Millionär. Heute aber zählt sein Werk längst nicht mehr zum festen Repertoire, spielen die Theater lieber Rossini, oder ein wenig die Belcanto-Klassiker Bellini und Donizetti, vor allem jedoch Verdi und Wagner. Eine Oper wie Le Prophète entpuppt sich hingegen als sporadische Angelegenheit, gern subsumiert unter den Begriff Wiederentdeckung, zuletzt zu sehen in Münster, Braunschweig und Karlsruhe, für 2018 in Berlin avisiert. In diese Schar der Ausgräber darf sich nun auch Essen einreihen. Es ist überhaupt das erste Mal, dass hier, im Aalto-Theater, eine Meyerbeer-Oper gezeigt wird.
Inszenierung und musikalische Umsetzung treiben uns allerdings nicht gerade auf die Stuhlkante. Nach fünf Akten (vier Stunden reine Musik plus zwei Pausen) gibt es zwar eine Art Überwältigung, die aber eher dem zähen Fortgang und einer Regie geschuldet ist, die mit putzigen Effektchen spielt, die Drehbühne kreisen lässt und trotzdem Statik erzeugt. Hinzu gesellt sich ein Orchester, das oft schön durchsichtig klingt und sehr differenziert koloriert, das aber kaum die dramatische Entäußerung wagt. Am Ende also, wenn Meyerbeer eine Art Weltenbrand im Sinne hat, ein Feuer, das die Schuldbeladenen verzehren soll, dann aber auf der Bühne nur eine Zündschnur glimmt und verglimmt, hier und da ein bisschen Rauch hervorquillt, sind wir geschafft, ausgelaugt – und auch enttäuscht.
Die Grand Opéra Le Prophète, angesiedelt zur Zeit der Bauernkriege im 16. Jahrhundert, das ist die Geschichte vom Schankwirt Jean, der seine Verlobte Berthe heiraten will, die indes als Vasallin des fiesen Grafen von Oberthal nicht freikommt. Jeans Zorn und ein visionärer Traum machen ihn empfänglich für die Schmeicheleien eines geheimnisvollen Wiedertäufer-Trios, er könne schon bald als Prophet regieren. Einzige Bedingung: Er müsse den Kontakt zu Berthe und zur über alles verehrten Mutter Fidès für immer abbrechen. Um der Rache willen ringt er sich durch, wird zum Religionsführer, bekriegt das westfälische Münster. Doch Jean ist ein Zweifelnder, Gewissensbisse peinigen ihn, er will aus allem raus. Die Wiederbegegnung mit Fidès und Berthe, der Traum vom privaten Glück, das im Geflecht von Machtspielen keine Chance hat, führt zur Katastrophe.
Große Oper, die in Essen allerdings in kleine Räume gepresst wird. Die Drehbühne ist segmentiert, zumeist in Dreiecksform, alle wirken wie gefangen. Das mag Sinn machen für die drei Protagonisten Jean, Berthe und Fidès, beschränkt aber die Aktionsmöglichkeit des Chores. Von dieser Masse geht kaum Bedrohliches aus, mitunter entsteht gar der Eindruck einer konzertanten Aufführung. Vincent Boussard (Regie) und Vincent Lemaire (Ausstattung) zeichnen dafür verantwortlich, sie arbeiten zudem mit diffusen, amorphen Projektionen, die allerdings bestenfalls als atmosphärische Beigabe taugen.
Und wenn sich im Hinterraum von Jeans Gaststätte die Kästen einer Essener Bierfirma stapeln, soll das wohl unter „couleur locale“ verbucht werden. Das erscheint uns jedoch arg provinziell, passt aber zum Bild von zusammengestauchter „großer“ Oper. Andererseits mag damit die Verortung des Geschehens in der Moderne signalisiert werden, in der Jean seinen Platz als Fan der holländischen Nationalmannschaft findet, wie ein Poster signalisiert. Die Kostüme wiederum (ebenfalls erdacht von Vincent Boussard) verweisen teils auf unsere Zeit, teils auf das revolutionäre Paris (um 1848), teils auf „finsteres“ Mittelalter (die Kutten der drei Wiedertäufer). Alles also ein wenig unentschlossen.
Umso klarer zeigt die Regie, wer die Hauptfigur dieses düsteren Dramas ist: Fidès, ein vereinnahmendes Muttertier, die wie eine Löwin um den Sohn kämpft, in ihrem Schmerz und ihrer Empörung zur Rachefurie wird. Schade nur, dass sie anfangs in steifer Eleganz, später im Tarngewand einer Bettlerin, aber stets mit Handtasche bewehrt, wie eine sture Margaret Thatcher der Grand Opéra daherkommt („I want my son back!“). In höchster Wut schleudert sie das Täschchen zu Boden – nun ja.
Marianne Cornetti singt diese Mezzopartie mit aller Leidenschaft, mit gehörigem dunklen Unterton und bisweilen hysterisch anmutender Höhe. Nicht immer gelingt in den Grenzbereichen des geforderten, weiträumigen Stimmumfangs die sichere Fokussierung. Doch wenigstens beweist Cornetti dramatisches Format, wo Lynette Tapia als etwas verhuscht wirkende Berthe zwar schöne Sehnsuchtspiani zu Gehör bringt, aber sonst mit kleiner Stimme blass bleibt. John Osborns vitaler Tenor wiederum ist fein geführt und überwiegend höhensicher, wenn ihm auch die Eleganz fehlt. Unter den Wiedertäufern macht Tijl Faveyts (Zacharie) den besten, weil unheimlichsten Eindruck.
Giuliano Carella leitet die Essener Philharmoniker. Alles mit Maß, scheint seine Devise. Mehr Zuspitzung wäre allerdings besser gewesen. Denn Meyerbeers Musik besteht, jenseits aller Klangfarbeneffekte, auch aus vielen gleichförmigen, sauber periodischen Baustücken, aus Episoden, die auf die Operette verweisen. Kurzum: Le Prophète hat trotz hier vorgenommener Striche (keine Ouvertüre, verknappte, sehr verrätselte Ballettszene) strukturell bedingte Längen, trägt manches an Konvention in sich. Die Beschäftigung damit wird wohl ein Fall des Sporadischen bleiben.