Übrigens …

Peter Grimes im Oper Bonn

Die traurige Geschichte eines Außenseiters

Die Oper Bonn bietet auch in der nächsten Saison einen hochambitionierten Spielplan, unter anderem mit Echnaton von Glass, I due Foscari von Verdi, Oberst Chabert von Hermann von Waltershausen und Schoecks Penthesilea, wobei letzteres Werk eine Koproduktion mit Linz ist. Solche gemeinsamen Unternehmungen gehören zu den besonderen Maßnahmen von Intendant Bernhard Helmich - man kann ihm nur nachdrücklich zustimmen. Sieht man von Jörg Arneckes Familienoper Ronja Räubertochter im Juni ab, ist Benjamin Brittens Peter Grimes die finale „große“ Produktion dieser Spielzeit. Sie geriet zu einem derart spektakulären Erfolg auch bei den Zuschauern, dass man sich an die Uraufführungs-Extasen an Sadler’s Welles 1945 erinnert fühlen konnte.

Es gibt viele Gründe für die außerordentliche Akzeptanz des Werkes. Zum einen ist es die Faszination der Titelfigur: ein tragischer Außenseiter, welcher von einer engstirnigen Gesellschaft gemobbt wird. Zum anderen hat sich Brittens Musiksprache bei allem gestalterischen Wagemut nie ganz von der Tonalität verabschiedet, was für einen Großteil des musikinteressierten Publikums von erheblichem Gewicht ist. Insbesondere die aus der Oper exzerpierten Sea Interludes oder auch das zunächst nur von lontanen Vokalstimmen grundierte Klanggeschehen des Finalbildes sind hochemotionale musikalische Aussagen, welche unmittelbar berühren. Es sei auch gleich gesagt, dass das Bonner Beethoven Orchester unter Jacques Lacombe die reichen Stimmungen und das instrumentatorische Flair der Musik hinreißend auskosten. Der von Marco Medved einstudierte Chor zeigt sich auf optimaler Höhe.

Dass der argentinische Tenor José Cura in Bonn mit dem als eine seiner Lieblingspartien erklärten Grimes sein Rollendebüt gibt und gleichzeitig als Regisseur und Ausstatter fungiert, dürfte das Interesse an diesem Unternehmen fraglos gesteigert haben, wie man es ja auch bei der Düsseldorfer Pasquale-Inszenierung durch Renato Villazón erleben konnte. Der Bonner Erfolg darf freilich eine größere Tiefenlotung beanspruchen.

Auch bei Peter Grimes handelt es sich um eine Koproduktion, und zwar mit Monte Carlo. Dort hat Cura jüngst als Tannhäuser auf der Bühne gestanden, auch eine Partie, welche auf seiner Rollenwunschliste stand. Sein vokaler und darstellerischer Einsatz bei der Britten-Oper wie auch seine überschwängliche Reaktion beim Premierenapplaus ließen spüren, dass ihm die Bonner Aufgabe in besonderer Weise am Herzen lag.

Bereits im 1. Akt, welcher primär das tägliche Leben in einem englischen Fischerdorf schildert, demonstriert Curas Regie Vitalität und bietet souveräne Personenführung. Diese Qualitäten kontinuieren sich (ungeachtet einer gewissen Chorsteife) auch im Folgenden und unterstreichen, was der Sänger in einem Interview des Bonner Generalanzeigers über sein Konzept zu Protokoll gab: „Jeder Standpunkt ist gültig, wenn er nur ehrlich ist. Das ist der Schlüssel zu einer modernen Regie: intellektuelle Redlichkeit. Die Menschen werden den Ideen folgen, wenn sie ernsthaft sind, ganz gleich wie kühn sie daherkommen. (Nicht) aber, wenn sie so etwas wie Heuchelei oder Scheinheiligkeit in einem Konzept ‚riechen‘ oder sie bemerken, dass man sie für eine Art geistige Selbstbefriedigung benutzt.“ Dass sich Cura für historische Kostüme entschieden hat, wundert also nicht.

Diese Äußerungen spiegeln sich in der Inszenierung in der Tat, was man mit Befriedigung konstatiert. Das muss kritische Anmerkungen im Detail nicht ausschließen. So spürt man Zweifel an der „Richtigkeit“ des Bühnenbildes. Cura zeigt gleichbleibend ein Haus, welches zunächst als Aunties Pub fungiert, danach (mit ausgeschnittenem Kreuz in der Wand) als Kirche und zuletzt - gänzlich ohne Wände - als die Moot Hall, also den Versammlungsort der Dörfler für Tanzfeste u.a. Das ist zu wenig Variation an couleur locale. Zudem wirken die Räumlichkeiten einigermaßen beengt, weil an der Seite des Hauses noch ein Wohnturm angebaut ist, in dessen Höhe Grimes seine Zimmer hat. Dabei sollte seine Behausung eigentlich an der Küste liegen, wo sein neuer Lehrling ja auch abstürzt. In Bonn wird sie durch einen malerischen Steinhaufen bestenfalls angedeutet.

Ein gewisser Vorbehalt gilt auch dem Sänger Cura. Er überzeugt nachhaltig, wo er Seelenschmerz in Belcantolinien ausdrücken darf. Die auf die Dörfler so ruppig und aufbrausend wirkende Fremdfigur gibt seine Stimme aber nur punktuell her. Der ideale Interpret des Peter Grimes, Jon Vickers (durchaus nicht Peter Pears), ließ durch sein etwas rissiges, aggressiv wirkendes Timbre das latent Unsympathische der Figur, die zwar berechtigte, aber auch etwas snobistische Herablassung des Fischers gegenüber den Mitbewohnern des Dorfes alleine mit vokalen Mitteln glaubhaft werden.

Curas Regie macht deutlich, dass er am Tod seines ersten Lehrlings leidet, dass der Junge ihn in Gedanken und Träumen verfolgt, dass er sich weiterhin in seinem nach außen hin so hart zur Schau getragenen Naturell nicht wohl fühlt, ohne jedoch diesen Zwiespalt aus eigener Kraft korrigieren oder gar beenden zu können. Auch seinem neuen Gehilfen begegnet er mit einer unkontrollierten Mischung aus Zärtlichkeit (mehr freilich, als man üblicherweise sieht) und Härte. Zuletzt gibt es eine Szene mit den toten Knaben, welche ihm zuletzt zu Diensten waren und die ihn nun tröstend umgeben. In diesem imaginären Moment scheint Grimes endlich einmal glücklich. Dass er den Namen seiner Seelenfreundin Ellen Orford ausspricht, die er zu heiraten gedenkt, sich aber gleichzeitig den Umarmungen der Jungen hingibt, könnte man als einen inszenatorischen Hinweis in Richtung Homosexualität deuten, welche bei Britten eigentlich in jeder Oper als Identitätssignal vermutet werden darf.

Die Ellen ist in Bonn mit Yannick-Muriel Noah einfach hinreißend besetzt. Die Sängerin verfügt über eine klare, bestimmte, aber unendlich zärtliche Sopranstimme. Das Altruistische der Figur bekommt zu Herzen gehende Konturen. Ein Porträt der Sonderklasse ist auch die Auntie von Ceri Williams. Als charaktervoller, in sich gefestigter Balstrode überzeugt Mark Morouse. Er führt ein Ensemble trefflich besetzter Nebenfiguren an, welche teilweise aus dem Chor heraus besetzt sind. Eine pauschale Namensnennung (in der Reihe des Besetzungszettels) muss genügen: Marie Heeschen und Rosemarie Weissgerber (Nichten), Christian Georg (Bob Boles), Leonard Bernad (Swallow), Anjara I. Bartz (Mrs. Sedley), David Fischer (Pastor), Fabio Lesuisse (Ned Keene), Goswin Spieß (Dr. Crabbe) u.a.

Es darf wiederholt werden: diese Bonner Aufführung ist ein Opernabend der Sonderklasse.