Psychologisch intensiv
Ben Baurs Ausstattung ist ein Fest für’s Auge, vor allem nach der Pause, wo auf der weiten, unbegrenzten Szene vornehmes Mobiliar zu sehen ist, dazu kleine Säulenpodeste mit üppigen Blumenarrangements sowie ausladende Kerzenleuchter. Bildästhetisch umwerfend. Und alle Personen der Oper sind komplett versammelt. Hochgezogen die Wandeinkleidung, welche im 1. Akt einen historisch stilvollen Raum bildet und mit einem Riesenvorhang Bühnenambiente imaginiert. Mozarts „dramma giocoso“ als Theater auf dem Theater? Und während noch die Ouvertüre das Sagen hat, sieht man Leporello eingeknickt mit dem Rücken zum Publikum gewandt stehen, mit einer Pistole an der Schläfe. Warum will sich der Mann um Gottes Willen erschießen? Giovanni, von der frackähnlichen Kleidung her (Uta Meenen) sein Alter Ego, hindert ihn jedoch daran und rettet sich damit auch selber. Leporellos nörglerische Worte „Ich will ein feiner Herr sein und nicht länger dienen“ (so die Originaltextübersetzung im Booklet zur CD-Aufnahme von Teodor Currentzis) werden hier mit tiefenpsychologischer Bedeutung angereichert.
Bevor man jedoch dies alles sieht, verkündet eine Textprojektion auf den Vorhang: „In allen Wesen, die ich liebte, habe ich immer nur dich gesucht.“ Dieser Satz stammt aus Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, was aber nur eruierbar wird, wenn man zuvor den Einführungstext im Programmheft gelesen hat. Sonst nämlich muss man einigermaßen konsterniert auf die Idee Ben Baurs (jetzt in seiner Funktion als Regisseur angesprochen) reagieren, das Finale als fröhliche Hochzeit von Donna Elvira und Leporello (!) zu zeigen, bei welcher der Titelheld totenstarr auf der Festtafel liegt.
Was passiert in der inzwischen fast hundertjährigen Novelle? Ein glücklich verheiratetes Paar erlebt in Traumereignissen, dass sein (auch erotisch) wohlgeordnetes Leben ein mitnichten ungefährdetes ist. Mann und Frau begegnen Personen, welche eine unter Umständen neue und idealere Beziehung signalisieren. Wenn sieben Jahre später in Arabella verlautet, dass es einen „Richtigen gibt auf dieser Welt“ (jetzt wäre zu ergänzen: die Richtige), wird diese Sehnsuchtsbehauptung nunmehr ad absurdum geführt. Jede auch noch so gesichert scheinende Beziehung wird prinzipiell als gefährdet ausgegeben, bewegt sich ständig auf des Messers Schneide. Ein „Glück, das ohne Reu“ (Lohengrin) gibt es nicht, ist bloße Utopie. Auch das „Liebespaar“ Elvira/Leporello wird sich im Laufe künftiger gemeinsamer Jahre wohl noch etwas umschauen müssen.
Baur legt viele interpretatorische Leimruten aus. Seine intelligente, mit immer wieder auftauchenden Leichenfiguren leicht verdüsterte Inszenierung, wirkt ungeachtet einiger unauflösbarer, geheimnisvoller Anspielungen gut nachvollziehbar, sorgt für permanentes Kribbelgefühl und regt zu ständigem Nachsinnen an. Unmöglich, alle raffinierten Details aufzuzählen. Als Schlüsselszene darf aber wohl „Crudele“/„Non mi dir“ angesprochen werden. Diese Szene wird in Gelsenkirchen vorgezogen und ist keine Liebeserklärung Donna Annas an Ottavio, sondern an Giovanni, welcher ihr hier - seiner selbst offenbar nicht mehr mächtig - zu Füßen liegt. Eine Begegnung, welche die seelisch unterschwelligen Erlebnisse bei Schnitzler nachzubilden scheint. Mit Rosenkavalier-Worten: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein.“ Dass Don Ottavio nicht “der Richtige“ für Donna Anna ist, macht diese auch bei anderer Gelegenheit unmissverständlich deutlich. So hatte sie zu Beginn einen Kuss verweigert und streut nun die, ihr an der Leiche des Vaters überreichten, Blumen mitleidslos auf den Boden. Der Zuschauer wird aus der Aufführung mit viel Aufregung/Anregung entlassen, freilich auch mit Irritationen. Weiteres Nachsinnen ist Pflicht.
Die Ouvertüre brodelt und flammt bei Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen noch nicht so ganz, doch später wird das dramatische Potential der Musik voll ausgereizt. Platz für Mozart-Wonnen der leiseren Art bleibt dennoch zur Genüge.
Bei den Sängern ist zunächst auf den 27jährigen türkischen Tenor Ibrahim Yesilay zu sprechen zu kommen. An der Deutschen Oper am Rhein begann er mit sogenannten „Wurzen“, wird im kommenden Jahr dort aber auch den Ernesto verkörpern (die Düsseldorfer Villazon-Inszenierung des Don Pasquale hatte zeitgleich mit Gelsenkirchens Giovanni-Premiere). Am Musiktheater im Revier fiel er besonders günstig als Prologus in Brittens Turn of he Screw sowie in Nino Rotas Florentiner Hut auf. Lyrisch schlank im Singen, nicht ganz so schlank in der äußeren Erscheinung, ist sein Ottavio eine „rechtes Mannsbild“, nach dem sich Donna Anna eigentlich alle Finger ablecken müsste. Trotz etwas vager Koloraturen in „Il mio tesoro intanto“ ein großartiges Rollenporträt, dazu darstellerisch temperamentvoll.
Bei der wunderbaren Alfia Kamalova gibt es wiederum leichte Abstriche hinsichtlich der Intonation zu machen. Aber das war wohl primär Abendform bei der Premiere. Stimme und Persönlichkeit der Sängerin setzen sich jedoch wieder einmal markant durch. Auch Petra Schmidts impulsive, manchmal direkt rasende Donna Elvira ist first class. Mit den pausenlos kaum zu bewältigenden Läufen in „Mi tradi“ geht sie, unterstützt vom Dirigenten, sehr geschickt um. Liebhaben muss man das Duo Bele Kumberger/Michael Dahmen (Zerlina/Masetto). Urban Malmberg gibt mit immer noch viel Bariton-Power einen nicht mehr ganz jungen Leporello (was im Rahmen der Inszenierung durchaus stimmig wirkt), Dong-Won Seo einen phonstarken Komtur. Sein Darsteller-Double ist hingegen ein gebeugter Greis, zu einem Duell (1. Akt) gar nicht mehr fähig. Als ständig präsente Leiche steigert er die beklommene Atmosphäre des Albtraum-Geschehens.
Und der Titelheld? Piotr Prochera kann es sich leisten, viele Szenen mit entblößtem Oberkörper zu spielen, was die erotische Komponente der Inszenierung unterstreicht. Procheras viriler Bariton besitzt autoritative Kraft; vokale Feingespinste sind seine Sache weniger. Aber sein Giovanni wirkt absolut passgenau.