„Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit wie die Dummheit“
Ein Volksstück nennt Ödön von Horváth seine Geschichten aus dem Wienerwald. Und wirklich, es versammeln sich einfache, ja simple Menschen in kleinbürgerlichem Milieu: Der „Zauberkönig“ Josef, ein Spielwarenhändler und seine Tochter Marianne, Tabakwarenhändlerin Valerie, die den jungen Alfred aushält und Metzger Oskar, dessen Charakter schauerlicher Weise alle Vorurteile bestätigt, die man seinem Beruf nachsagt: roh ist er und primitiv. Sie alle leben in festgefügten, einfach strukturierten Bahnen. Doch dann will Marianne ausbrechen aus diesem Leben, will sich emanzipieren. Das ist etwas Ungeheures und ihr Aufbegehren wird bitter bestraft. So wird das Volksstück zum Drama..
HK Gruber hat die Geschichten aus dem Wienerwald vertont und eben diese Oper hat sich Norbert Hilchenbach als Abschiedsinszenierung nach zehn Jahren Intendanz am Theater Hagen erkoren.
Jan Bammes’ Bühne zeigt vor allem die eintönige Umgebung, in der sich viele Tragödien abspielen werden – eine graue Ladenzeile mit Schaufensterauslagen – Zaubereiutensilien, Zeitungsständern und als „Eye-Catcher“ eine rosige Schweinehälfte in Oskars Fleischerei. Yvonne Forster verortet die Personen per Kostüm in die Entstehungszeit des Dramas – die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
In diesem Ambiente zeigt Hilchenbach noch einmal, was seine Regiearbeiten ausmacht. Er wählt stets klare Bilder, Szenen und bisweilen auch Posen – zeigt deutlich, was er meint. Da gibt es nirgendwo überfrachtete Symbolik oder hektische, bewegte Szenen. So schildert er eindrücklich Mariannes Versuch sich zu befreien, der allein deshalb scheitern muss, weil sie keine klare Vision hat von ihren Zielen, Wünschen, Vorstellungen. Hilchenbach macht so eindeutig klar, warum Alfred der falsche Mann ist,. Dass man ihr zurufen möchte: „Mädchen lass’ es!“. Besonders berührend gerät Hilchenbach der Schluss: Alle Wogen haben sich geglättet. Das Leben geht weiter wie vor Mariannes Befreiungsversuch. Sie hat aufgegeben und Oskar kann sie auf seinen Armen wehrlos in einen trist-grauen Bühnenhintergrund tragen. Einer freudlosen Ehe oder der Schlachtbank entgegen.
Komponist HK Gruber und sein Librettist Michael Sturminger verlassen sich voll auf Horváths Wortgewalt bringen seine Sprache, die geprägt ist von der Grausamkeit des Banalen zum Tönen. Grubers Musik nimmt den Volkston-Charakter des Stücks auf, entlarvt die Vordergründigkeit der Wiener Walzerseligkeit, greift sie auf, aber entkleidet sie jeglicher Zuckercouleur. Bei Gruber ist jede Menge los. Ständig gibt es Ausbrüche, kulminiert die Musik in immer wieder neue Höhepunkte. Dabei gehen die innehaltenden, leisen Sequenzen das eine oder andere Mal unter. Dazu tun auch Florian Ludwig und die Hagener Philharmoniker ihr Teil. Sie haben die Partitur völlig durchdrungen, machen ihre Differenziertheit erfahrbar. Aber Ludwig dreht zu sehr auf. Es ist schlicht meistens zu laut.
Auffallend, dass das Theater Hagen in der Lage ist, die kleinen Partien im personenintensiven Stück auf durchgehend hohem Niveau zu besetzen. Maria Klier und Veronika Haller, Rainer Zaun, Joslyn Rechter und Andrew Finden sorgen dafür, dass sich gesanglich der Abend hervorragend rundet – ebenso wie Keija Xiong als Schlachtergeseller, der in die höchsten Höhen hinauf muss und Vor allem Marilyn Bennett als selbstgerechte, mörderische Großmutter.
Wie Jeanette Wernecke als Marianne die halsbrecherischen Anforderungen der Partie bewerkstelligt und dabei Naivität ebenso wie Herzblut Mariannes herausarbeitet, ist fantastisch. Kenneth Mattice als schmieriger Lover Alfred überzeugt mit warm-schmeichelndem Bariton. Martin Blasius (Josef) ist ein wirklich stumpf-polternder Kleinbürger und Kristine Larissa Funkhauser überzeugt als verlebte Tabakhändlerin, die auch noch ein wenig Spaß haben möchte. Unangenehm hoch liegt die Partie des Oskar. Philipp Werner meistert sie nicht immer ganz elegant, zeichnet aber den unangenehmen Menschen im Ganzen tiefgehend. Das gelingt auch Björn Christian Kuhn als Jungnazi Erich.
Ein runder Abend beendet den Premierenreigen dieser Spielzeit am Theater Hagen und die Intendanz Norbert Hilchenbachs. Warum mag der sich zum Abschied - nach einem zehnjährigen Kampf mit fantasievollen Spielplänen unter stetem ökonomischem Druck gegen beständig ausgeweitete Sparauflagen - wohl ein Stück über bornierte Kleinbürger ausgesucht haben, die in einer engen Welt ohne Horizont leben?