Schöne Fremde
Seit mehreren Jahren beschäftigen etliche Theater sich intensiv mit Geflüchteten, den Ursachen für ihre Flucht, mit Migration an sich. Häufig sind das dann gewaltige Projekte mit dokumentarischem Material und Video-Installationen, gerne mit Geflüchteten selbst auf der Bühne. Diese Arbeiten sind immer gut gemeint, oft besserwisserisch, gelegentlich sehr anrührend, manchmal auch sehr peinlich. Und sie formulieren fast immer eine Anklage - in der Regel an die Politik in Europa und/oder in den Herkunftsländern, an die Gier internationaler Wirtschaftskonzerne und Geschäftemacher, an die Langsamkeit und Unkoordiniertheit der nationalen und internationalen Justiz.
Die Kölner Oper stellt sich jetzt mit einem vergleichbar klein dimensionierten Projekt in diese Reihe - und macht doch etwas ganz anderes. Die israelische Mezzosopranistin Dalia Schaechter ist seit über 20 Jahren Ensemblemitglied des Hauses und hat in den letzten Jahren mehrere eigene, beim Publikum sehr beliebte Projekte entwickelt, die sich vielleicht am besten als Kammermusik-Liederabende beschreiben lassen. Für Fremde unter Fremden hat Dalia Schaechter 16 in und um Köln lebende Menschen verschiedenster Nationalitäten nach dem Lied in ihrer Heimatsprache gefragt, das für sie am meisten mit ihrer Heimat zu tun hat. Die Videokünstlerin Valerie Schaller hat diese Gespräche gefilmt und kann so die ‚Schenker‘ der Lieder in komprimierter Form vorstellen. Und Dalia Schaechter trägt, in Partnerschaft mit dem Schauspieler Bert Oberdorfer, dem Bratschisten Gerhard Dierig, dem Gitarristen Lajos Tar und dem Pianisten Jan Weigelt, alle diese Lieder vor.
Der Abend wird - nur! warum? - noch zweimal zu erleben sein, am 21. und 22. Juni. Wenn Sie in oder um Köln wohnen, fahren Sie hin! Wenn Sie einen weiteren Weg haben, nehmen Sie die Reise auf sich! Was Sie zu hören bekommen, wird Sie erfreuen und erschüttern wie selten. Durch die Lieder und durch den Umgang dieses wunderbaren Ensembles damit werden, in Kombination mit den Filmen, die Geschichten der Menschen in großer Schönheit lebendig. Es entsteht ein sehr persönlicher Abend voll positiver Energie, eine absolut ungewöhnliche Form intensivster Kommunikation, deren Medium die Musik ist. Und wie fantastisch, wie frei, mit welcher unverkrampften Leidenschaft, mit welcher Freude wird hier musiziert. Alles wirkt spontan, jeder Moment einzigartig, immer hören alle aufeinander, sind beieinander. Bert Oberdorfer trägt die Übersetzungen der Lieder vor, bereichert den Abend durch souveränen und vor allem selbstverständlichen Vortrag kurzer Texte von Karl Valentin, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht und singt selber drei der Stücke. Gerhard Dierig und Jan Weigel stellen ihr großartiges Können ganz in den Dienst dieser oft exotischen Lied-Miniaturen und erfreuen zudem mit einer virtuosen und mitreißend komödiantisch überdrehten Duo-Version von Brahms‘ berühmtestem Ungarischen Tanz. Lajos Tar brilliert mit Gitarre und Laute und singt ein wunderbares Lied aus seiner ungarischen Heimat. Und Dalia Schaechter singt, auf israelisch und arabisch, auf Quechua und ukrainisch, auf deutsch und englisch, spanisch und portugiesisch, türkisch und kurdisch, slowakisch, griechisch, koreanisch… Sie findet für jedes Lied einen eigenen Ton. Und sie erzählt von Freundlichkeit, Herzlichkeit, Sehnsucht - und blendet die allgegenwärtigen Vorurteile nie aus, auch ihre eigenen nicht. Und sie strahlt und öffnet unsere Herzen. Sie ermutigt uns, auch selbst das gefühlt Fremde nicht einfach zu meiden, sondern zuzulassen, an uns heran zu lassen, mutig und freundlich zu sein.
Fremde unter Fremden ist ein wichtiger, sehr wichtiger, sehr schöner Konzert-Theater-Video-Musik-was-auch-immer-Abend, dem man eine große Europatournee wünscht, weil diese Offenheit und Musizierfreude Wunden heilen und Menschen zueinander bringen könnte. Und das ohne einen Moment Sentimentalität. Gehen Sie hin!