Ein tödlicher Irrtum
Kennt jemand eigentlich noch Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“? Wahrscheinlich ist diese für mich immer noch unerreichte Nacherzählung griechischer und römischer Sagen längst auf dem Scheiterhaufen überkommener Informationsübermittlung gelandet. Eigentlich schade, denn nirgendwo findet man so schlank und dennoch voller Liebe Mythen und archaische Lebenskonflikte präzise und gleichwohl voller Dramatik geschildert. Da nutzt auch Wikipedia nicht wirklich etwas, will man in diese Welten eintauchen. Und das Eintauchen ist für Theatergänger ja ein wirkliches Muss. Denn viele, wenn nicht die meisten Produktionen in Schauspiel, Oper und Tanz stehen damit in unmittelbarem Zusammenhang.
Eine kleine Randnotiz ist da in Homers Ilias die Penthesilea-Episode. Während des trojanischen Kriegs verliebt sich der Danaer-Held Achill in die Leiche der toten, schönen Amazonenkönigin, die mit ihren Kriegerinnen dem bedrängten Troja zur Hilfe eilt. Heinrich von Kleist nimmt diese Episode zum Anlass, in seinem Penthesilea-Drama die Frage der bedingungslosen Liebe in den Mittelpunkt zu stellen. Er erzählt aus Sicht der Herrscherin der Amazonen. Sie darf sich nur einen Gefährten wählen, den sie im Kampf besiegt hat. Nun ist es in diesem Fall aber Achill, der Penthesilea besiegt hat, ist aber bereit, dies zu vergessen. Und er stellt sich zu einem neuen Zweikampf: waffenlos. Penthesilea aber glaubt nicht an diese große Liebe, tötet Achill und, als sie ihren Irrtum erkennt, sich selbst.
Der Schweizer Komponist Othmar Schoeck hat sich aus Kleists Penthesilea für seine gleichnamige Oper ein Libretto geformt. 1927 wurde sie uraufgeführt. Schoeck verdichtet die Handlung, spitzt sie zu auf die Beziehung der beiden Liebenden.
Dirk Kaftan, neuer Generalmusikdirektor an der Oper Bonn, hat sich dieses Werk gewählt für sein Debut als GMD in der Bundesstadt. Und das sicher ganz bewusst. Denn Schoeck beschäftigt in seiner Partitur ein riesiges Orchester, das Wagnersche oder Straussche Dimensionen zum Teil noch übertrifft. Und so kann Kaftan die Vorzüge des Beethoven-Orchesters herausstellen. Das tut er meisterhaft. Stille Passagen und eruptive Ausbrüche gelingen gleichermaßen. Und Kaftans Einstand in Bonn ist auch deshalb klug, weil er sich mit der Penthesilea zugleich in die Tradition der Oper Bonn einreiht, die sich um die Pflege des Opernrepertoires der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den vergangenen Spielzeiten sehr verdient gemacht hat.
Als Inszenierungsteam konnten - man darf das, ohne despektierlich wirken zu wollen - zwei große, ältere Männer der Musiktheaterszene gewonnen werden. Peter Konwitschny als Regisseur und Johannes Leiacker als Ausstatter. Beide nehmen sich der Aufgabe an, lösen sie nicht spektakulär, sondern im besten Sinne mit akribischer Routine.
Das Orchester ist auf der Hinterbühne platziert, vorne eine weiße hochglänzende Spielfläche. Die ist nicht zu klein und nicht zu groß. Darauf zwei Flügel, denen Schoeck zumisst, das Seelenleben seiner Protagonisten widerzuspiegeln. Deshalb werden die Klaviere auch je nach Gefühlslage hin- und hergeschoben. Lucas Huber Sierra und Meri Tschabaschwili sind nicht nur großartige Pianisten, sondern auch tolle Darsteller. Um das Karreé herum sitzt der Opernchor, den Marco Medved perfekt auf seine Rolle als kommentierend-berichtendes Element einer klassischen griechischen Tragödie vorbereitet hat.
Sängerisch ist diese Inszenierung ein Genuss: Alle Darsteller (auch der kleinen Rollen) lassen sich perfekt ein auf Schoecks Penthesilea. Chrisian Miedls Achill ist volltönend und voller Liebe ohne Arglist, Dshamilja Kaiser in der Titelpartie eine echte Entdeckung. Warm und voll ihre Tiefe, klar und glockenhell die Höhen. Wie hat sich ihre Stimme doch seit ihren Anfangsjahren am Theater Bielefeld entwickelt.
Eine Premiere, die Lust macht auf mehr: von Dshamilja Kaiser, von Dirk Kaftan und dem Beethoven-Orchester - und von mehr Opernrepertoire aus der Entstehungszeit von Schoecks Penthesilea. Das Publikums sieht das offensichtlich genauso und applaudiert schwer begeistert.