Bis ins Mark
Streng ritualisiert und mit akribischer Perfektion umgesetzt spielt sich auf der Bühne eine Hinrichtungsszene in einem US-Gefängnis ab, wie sie oft schon über Kinoleinwände flimmerte: Hinter einem Glasfenster die Zeugen der Barbarei, davor die Beteiligten: soldatische Kalfaktoren, ein Arzt, ein Priester... festgeschnallt auf einer Liege der Delinquent. In diesem Fall der historisch belegte Johann Christian Woyzeck, der 1824 hingerichtet wurde, und auch Georg Büchners Woyzeck und Alban Bergs Wozzeck. Nach scheinbar endloser Zeit wird Wozzeck durch Strom sterben.
Und dann setzt Stefan Herheim jene Minute zwischen Leben und Tod in Szene, in der angeblich das Leben vor dem inneren Auge noch einmal abläuft. Das gesamte Gefängnispersonal verwandelt sich und so entspinnt sich Büchners und Bergs Szenenfolge. Keineswegs als grau-deprimierendes Sozialdrama. Herheim zeigt uns die letzten Bilder eines Sterbenden mal absurd, mal grell-bunt und auch wieder schlicht grausam. Immer aber bis zur Kenntlichkeit übersteigert.
Die Hinrichtungsliege auf Christoph Hetzers Bühne bleibt zentrales Element, gemahnt an den Ausgangspunkt der Inszenierung und ist immer wieder Stätte, auf der Wozzeck auf den Grund seiner menschlichen Existenz geführt wird. Hier versucht er bei Marie Trost und Ruhe zu finden. Hier streichelt Marie ihn, spricht mit ihm wie zu ihrem Sohn, der nur imaginativ auf der Bühne auftaucht. Hier muss er aber auch erleben, wie der Tambourmajor vor seinen Augen seine Geliebte lustvoll-brutal vögelt (mit Verlaub: irgendein anderes, harmloseres Synonym wäre hier absolut fehl am Platze), nachdem er Marie vorher mit blonder Perücke und fratzenhaft geschminktem Gesicht zum willenlosen „Funkenmariechen“ degradiert hat.
Wozzeck, Marie und Andres sind in rote Anstaltskleidung gewandet - Insassen einer Psychiatrie vielleicht. Aber sind sie vielleicht nicht doch die einzig Normalen in einer tobenden, aus den Fugen geratenden Welt? Bei Stefan Herheim jedenfalls tragen die anderen fast groteske Charakterzüge. Der Hauptmann etwa gefällt sich derart in zur Schau gestelltem moralischem Leben wie der Arzt in vor sich her getragener Kompetenz und Würde, dass man beiden eine Psychose attestieren könnte.
Und locker treibt Herheim seine Beobachtungen weiter auf die Spitze. Der Narr kommt im Priestergewand daher, kniet betend am Bühnenrand in einer Kapelle vor einem Marienbild, um sich gleich darauf mit hervor blitzenden Strapsen und grell geschminkten Augenlidern als Travestiedarsteller zu entlarven. Die ganze Szenerie erinnert bisweilen an einen mittelalterlichen Totentanz - gerade in ihrer grellen, drastischen Unverblümtheit.
Ein weiteres starkes Bild ist das Rasiermesser. Wozzeck trägt es ständig mit sich, ist zugleich Symbol für die Unterdrückung durch den Hauptmann, gleichzeitig scheint es ihm Stärke zu geben und Kraft. Es ist aber ebenso Last und Bedrohung. Wie der Dolch der Lady Macbeth schwebt es über ihm und letztlich ist der Mord an Marie Befreiung.
Großartig wird musiziert in Düsseldorf. Sicher singend agieren Katarzyna Kunclo als Margret, Thorsten Grümbel und Dmitri Vargin als Handwerksburschen. Das gilt auch für den Andres von Cornel Frey. Corby Welsh ist ein profund-viriler Tambourmajor, Sami Luttinen als Doktor glänzt mit lupenreiner Diktion und darstellerischer Präsenz. Der Hauptmann Matthias Klinks ist höhensicher und von Häme durchdrungen. Das ist perfekt.
Ein kleines Wunder ist die Marie. Camilla Nylund gelingt der Spagat zwischen lyrischen und dramatischen Passagen auf das Feinste. Ihre Marie spiegelt die qualvolle Divergenz von lebensnahem Pragmatismus und Idealen. Bo Skovhus in der Titelpartie ist so schwach, so stark, so verzweifelt, so entschlossen und zugleich so unentschlossen. Er ist stimmlich wie darstellerisch ein idealer Wozzeck.
Axel Kober und die Düsseldorfer Symphoniker erleben mit diesem Wozzeck eine Sternstunde. Ihnen gelingt es, die Intensität der starken Bilder durch ganz akkurates Arbeiten bis zur Perfektion zu bringen.
Am Ende sehen wir den Hinrichtungsraum. Kaum eine Minute ist vergangen seit Beginn. Das suggeriert uns die große Uhr, die von Beginn an das Bühnenbild ziert. Dass trotzdem viel geschehen ist, beweist uns Wozzeck, der seine Fesseln sprengt, sich losreißt und die wie tot am Boden liegenden Akteure zum Aufstehen auffordert. Die Kulissen fallen, geben den Blick frei auf die Scheinwerferbatterien. Geht da noch was? Können wir noch etwas tun für die Menschheit, also für uns? Alban Berg hat so etwas angedeutet mit seinem Orchestervorspiel vor der finalen Szene. Und Stefan Herheim tut das auch mit seinem tiefen, ebenso sezierenden wie sanguinischem Blick in die Gründe menschlicher Seelen. Ein ganz großes Theaterereignis geht da in Düsseldorf vonstatten, das bewegt, sprachlos macht und den Atem verschlägt: Theater pur.