Don Carlo. Ein Requiem im Theater Münster

Drama ohne Dramatik

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf einen großen unwirtlichen Raum, an den Seiten begrenzt von hohen Wänden, nach oben hin von einer wie aus Beton gegossenen Decke mit rechteckigen Löchern, durch die spärliches Licht fällt. Ein kleiner Hügel ist in der Bühnenmitte angehäuft, von Laub bedeckt, vielleicht von jenen toten Bäumen, die rechts und links des Hügels ihr trauriges Dasein fristen, denn sie stecken in Schächten, die von der Decke über sie gestülpt sind. Keine freundliche Atmosphäre also, eher eine Silhouette, die Gedanken an Abschied, Tod und Verwesung aufkommen lässt. Mittendrin der Sarg Karls V. Wir sind also im Kloster St. Yuste. Schon stürzt der verzweifelte Don Carlo herbei – und die Geschichte um Elisabeth, Philipp II., den Marquis von Posa und eben Don Carlo nimmt ihren Lauf.

Es scheint in der Tat die Erzählung einer alten Geschichte zu sein, um die es Regisseur Ulrich Peters geht und für die er sich von Ariane Isabell Unfried historisierende Kostüme hat schneidern lassen. Dazu passt der Eindruck, den die Bewegungen der Figuren auf der Bühne erwecken. Die sind nämlich seltsam unnatürlich, posenhaft und mitunter übertrieben – als gälte es, ein grausames Märchen in Szene zu setzen. Echt, menschlich, glaubwürdig jedenfalls wirken sie nicht. Nicht Elisabeth, deren Seelenqualen unter ihrem korsetthaften Kleid in Unschulds-Weiß verborgen bleiben; nicht Philipp, der sich nirgends gestattet, aus seiner Rolle als kalkulierendem Machtmenschen herauszutreten. Nur die Eboli bekommt menschliche Züge, geprägt von List, unerwiderter Liebe (zu Don Carlo), aber auch großem Schuldbewusstsein (gegenüber Elisabeth). Das Meiste dieser Inszenierung jedoch trägt den Charakter des Schematischen, bis hinein in die Personenführung, so etwa in der Szene, mit der sich Elisabeth und Don Carlo voneinander verabschieden: das Paar steht in der Bühnenmitte, läuft symmetrisch auseinander, um sich schließlich wieder in der Mitte zu treffen. Verschenkt auch die dramatische Situation, in der sich der Infant mit seinem Degen gegen den Vater richtet – und dann wie ein braver Grundschüler die Waffe gehorsam an den Marquis von Posa abgibt. Es sind wenige Momente in Peters‘ Regiearbeit, an denen es ansatzweise knistert, leider gar nicht im Autodafé, dieser Steilvorlage für das Entfachen feuriger Action. Stattdessen kommt ein bisschen Qualm aus dem Bühnenboden, natürlich rot beleuchtet. Und die flandrischen Deputierten, also Menschen aus einem von Blut getränkten Land, knien wie Betschwestern vor dem für die Gewalt verantwortlichen König – im feinsten Sonntagszwirn, den sie für ihre Reise zu Philipp hermetisch verpackt haben müssen.

Dieser Don Carlo zieht vier Akte lang vorüber, ohne Empathie zu erzeugen, was das Szenische angeht. Das gelingt allein dem Sinfonieorchester Münster unter seinem neuen GMD Golo Berg, der sein erstes Operndirigat präsentiert. Er macht es sehr gut! Vor allem koordiniert er perfekt zwischen Bühne und Graben. Und er kitzelt die Spannung aus Verdis großartiger Partitur heraus, weckt Stimmungen, erzeugt das Dramatische, das dem Bühnengeschehen abgeht.

Gesungen wird ebenfalls gut. Garrie Davislim ist der Titelheld mit intonationssicherem und konditionsstarkem Tenor, dem er vielleicht noch etwas metallische Schärfe beimischen könnte. Stephan Klemm überzeugt als Philipp II.: Autorität ausstrahlend, satt im Klang – gibt sich darstellerisch aber ziemlich hölzern (was auf die Regie zurückzuführen sein könnte). Filippo Bettoschi fühlt sich in seiner Rolle als Marquis von Posa pudelwohl, Christoph Stegemann als Großinquisitor mobilisiert seinen zwar schwarzen, aber zu wenig fiesen, finsteren oder gar furchteinflößenden Bass. Dignität als Hüter der Ordnung genießt er allemal. Kristi-Anna Isene (Elisabeth), ein schöner, runder und auch in der Höhe leicht anspringender Sopran, erweist sich in den beiden ersten Akten eher als gefühlsmäßig reserviert, taut aber danach ihr Eis auf und zeigt Emotionen – was die Eboli in Gestalt von Monika Walerowicz schon von ihrem ersten Ton an tut, ja dank Rollenprofil tun kann. Und es sind wunderschöne Töne: dunkel funkelnd, in den Farben reich changierend, berührend. Walerowicz‘ „O don fatale“ gehört zu den wenigen Höhepunkten dieser Inszenierung. Da hilft es auch nicht, Verdis Partitur stellenweise zu unterbrechen und mit Alfred Schnittkes Requiem anzureichern. Das stört zwar nicht, liefert aber auch keinen zusätzlichen Erkenntnisgewiss. Uneingeschränktes Lob verdienen die von Inna Batyuk einstudierten Chöre, die sich zwar in der Enge der Einheitsbühne kaum bewegen können, dafür aber um so prächtiger singen.