Eine unglaubliche Geschichte
Johanna – ein kleines Mädchen, eine Überfliegerin! Voller Neugier und Wissbegierde. Sie selbst bringt sich Lesen und Schreiben bei, indem sie heimlich lauscht, wenn ihr jüngerer Bruder Johannes unterrichtet wird. Bald versteht sie Griechisch und Latein, fängt eigenständig an zu denken! Obwohl es sich nicht schickt für ein Mädchen, das zu Beginn des 9. Jahrhunderts in dem kleinen Örtchen Ingelheim am Rhein geboren wird - als ungeliebtes Kind des grantelnden und mit mäßig entwickeltem Intellekt ausgestatteten Dorfpfarrers, dessen Frau Gudrun noch den heidnischen Göttern anhängt und deshalb den gewalttätigen Repressalien ihres Mannes ebenso ausgesetzt ist wie Johanna und Johannes. Nichts wie weg, denken sich die beiden. Zumal der reisende Gelehrte Aeskulapius ihnen eine attraktive Alternative anzubieten hat: die Aufnahme in die Klosterschule zu Dorstadt. Einziges Handicap: Johanna hat dort eigentlich nichts zu suchen. Denn das weibliche Wesen hat sich (zu damaliger Zeit) nicht zu bilden sondern nur pflichtbewusst zu funktionieren, basta! Und trotzdem: der weise Aeskulapius schafft es, beide, Johanna und Johannes, in der Schule unterzubringen. Dies ist der Beginn einer unglaublichen Geschichte, die sich vielleicht sogar wirklich so zugetragen hat, damals im „finsteren“ Mittelalter.
Und es ist der Beginn eines Musicals, komponiert von Dennis Martin und 2011 in Fulda uraufgeführt, dem der Roman Die Päpstin der US-Autorin Donna Woolfolk Cross zugrunde liegt. Ein Musical, das den Weg der Johanna einfühlsam nachzeichnet: vom kleinen Mädchen, in ärmlichen Verhältnissen aufwachsend, bis zur Inthronisation als Oberhaupt der römischen Kirche, zum Papst Johannes in Rom! Gegen alle Widrigkeiten und Widerstände. Aber immer unter dieser einen Bedingung: Johanna muss ihre wahre, weil feminine Identität verschleiern und verstecken. Den Apparat Kirche betreiben nun einmal ausschließlich Männer. Und was für welche! Heuchlerische und hinterlistige, machtbesessene und munter mordende, skrupellose und schäbige... – sie alle kommen in Dennis Martins Die Päpstin vor. Und das alles ergibt eine spannende Geschichte. Dachten sich auch die „Macher“ der Musicalfabrik im ostwestfälischen Rheda. Musicalfabrik – das sind viele, viele begeisterte Menschen, die in ihrem „wahren“ Leben eigentlich gar nicht in erster Linie professionell mit Musik, Theater, Singen und Schauspielen zu tun haben. Aber deren Herzfrequenz höchste Höhen immer dann erreicht, wenn sie auf der Bühne und vor dem Publikum stehen. Die Fabrik-ArbeiterInnen nämlich sind Laien, die auch diesmal wieder jede Menge ihrer Freizeit investiert haben, um ein Musical-Projekt wie Die Päpstin auf die Beine zu stellen. Gespielt wird im „Reethus“, der Stadthalle in Rheda, einem funktionalen Zweckbau aus den 1970er Jahren, der gute Dienste leistet. Jetzt also für Die Päpstin.
Eine ausgezeichnete Stück-Auswahl! Denn, wie gesagt, die Story ist spannend und auch emotional berührend. Und die Musik, die Dennis Martin da eingefallen ist, kommt einfach gut rüber. Mal greift sie - naheliegend - auf gregorianische Motive aus der klösterlichen Liturgie zurück, mal auf die temperamentvollen Klänge der bodenständigen Bevölkerung auf einem mittelalterlichen Marktplatz; vor allem erzeugt sie in ihren Songs immer und immer wieder echten Groove, erweist sich in jeder Hinsicht als äußerst farbig und abwechslungsreich: Rhythmus, Instrumentierung, chorische Elemente - das alles mündet in eine überzeugende Dramaturgie ohne irgendwelche „Durchhänger“. So vergehen drei Stunden Aufführungsdauer quasi wie im Flug. Und das ist immer ein gutes Zeichen.
Wer aber restlos überzeugt, das sind die Musikfabrik-Akteure auf der Bühne. Ein Laien-Ensemble? Man staunt! Denn gesungen wird einfach fabelhaft. Und nicht nur gesungen, sondern auch geschauspielert. Jede einzelne Station auf Johannas Weg nach Rom wird mit Leben gefüllt, ob im strengen Ritus der Benediktiner zu Fulda, bei denen Johanna als „Johannes Anglicus“ unterkommt, oder im rauschenden Trubel auf dem Jahrmarkt von St. Denis, ob am Hof des opportunistischen Kaisers Lothar oder in - wir sind bereits in Rom - den Etablissements der verführerischen Marioza, in denen der hochwürdige Klerus ein- und ausgeht. Dennis Martins Musical bietet Soli, Duette, Ensembles, Massenszenen, also viel Entfaltungsmöglichkeiten. Dies alles auf eine eher bescheidene Bühne wie die im Rhedaer „Reethus“ zu bringen, zumal mit ihrer eingeschränkten Bühnentechnik, verlangt Kreativität und einen virtuosen Umgang mit den vorhandenen Mitteln. Regisseur Benjamin Lenert und Co-Regisseurin Bettina Wulfheide meistern all diese Herausforderungen. Diverse Vorhänge, die wie Rollos von unten nach oben, von oben nach unten gezogen werden, symbolisieren verschiedene Spielorte, praktikabel angelegte Bühnenkulissen deuten hier ein Kloster, dort einen Kaiserpalast, schließlich auch die Schaltzentrale päpstlicher Macht im Lateran an. Eine gute Lichtregie und ein klein wenig Bühnenzauber wie die Nebelmaschine ergänzen diese Inszenierung, ohne dass man jemals den Eindruck hätte, es würde etwas fehlen!
Vor allem fehlt es nicht an guten Sängerinnen und Sängern - durch die Bank. Wobei sämtliche Figuren, sechzehn an der Zahl, doppelt besetzt sind. Um alle Protagonisten zu erleben braucht es also mindestens zwei Vorstellungen. Wer, wie ich, „nur“ bei der Premiere dabei war, kann sich kein Urteil über die Alternativ-Besetzung erlauben und sie deshalb auch nicht vergleichen mit den Aktiven der Premiere. Diese aber waren ausnahmslos toll. Weil von ihnen wirklich eine Spannung ausging, sie ein Feeling spürbar werden ließen für diese Geschichte, die nicht nur eine des Aufstiegs ist, sondern auch eine von Zweifeln, von Angst, von unmöglicher Liebe, von erlebter Gewalt und erfahrener Geborgenheit. Stellvertredend für alle seien hier zumindest die Hauptrollen genannt: Jenny Effertz gab die erwachsen gewordene Johanna, Burkhard Schlüter ihren Förderer Aeskulapius, Sebastian Elmers war die Premierenbesetzung der Rolle des Gerold, der Johanna auf ihrem Weg begleitet, sie schützt und sich auch in sie verliebt, Bastian Granas mimte den fiesen Anastaius, der scharf ist auf den päpstlichen Thron – aber auch alle übrigen SängerdarstellerInnen überzeugten rundherum.
Für den richtigen Musical-Sound sorgte das 22-köpfige Instrumental-Ensemble, liebevoll als das „päpstliche Orchester“ bezeichnet! Am Pult Klaus Wulfheide, der perfekt koordinierte zwischen Bühne und Orchester. Entscheidend waren aber auch all jene Menschen, die hinter der Bühne und zumeist schon weit, weit vor dem Premierentermin für ein solches Mammut-Projekt Verantwortung übernommen hatten: ein Team aus rund 130 „Musical-Fabrikanten“. Von der Hairstylistin über den Vocal-Coach, von der Gewandmeisterin bis zum Werbedesigner, von den Souffleusen bis zu den Lichttechnikern. Ein Gesamtkunstwerk also.
Wenn die an vier Tagen im November 2017 gespielten sechs Aufführungen vorüber sind, hat die „Musicalfabrik“ 3000 Leute im Publikum erreicht. Schon vor der Premiere waren all diese 3000 Karten verkauft – weshalb es weitere sechs Zusatzvorstellungen in Rhedas „Reethus“ geben wird: vom 22. bis 25. Februar 2018.
Kartentelefon: Flora Westfalica, 0 52 42 – 9 30 10