Übrigens …

Dracula im Detmold, Landestheater

Vom bösen Blutsauger zum tragischen Liebhaber

Ganz zu Beginn kommen die drei Damen, als ob wir in der Zauberflöte wären; gleich darauf folgt die Straßen-Szene, in der sich Jüngling und Jungfrau erstmals begegnen. Doch die drei Damen gleichen mit ihren überlangen Fingernägeln dem Struwwelpeter und anstatt vom „holden Tamino“ zu schwärmen, besingen sie in unverständlichem Singsang (Rumänisch?) „Nosferatu“. Und bevor der Jüngling auf der Straße sein „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen…“ anbringen kann, macht die Projektion einer alten Stummfilm-Texttafel klar, wo wir sind: bei Dracula.

Es war ein langer Evolutions-Weg, den der Vampir Dracula zurücklegen musste; angefangen hat er als menschenblutsaugende untote Horrorgestalt: 1897 von Bram Stoker zum literarischen Leben erweckt, 1922 von Wilhelm Murnau als Stummfilm-Bösewicht Nosferatu wiederbelebt, in den späten 1950-er Jahren auferstanden als Kinolegende mit dem Gesicht von Christopher Lee (nur der Vollständigkeit halber: die Wikipedia-„Liste von Vampirfilmen“ scheint kein Ende zu nehmen).

Heute dagegen heißen Vampire schon mal „Salvatore“ (!) (= der edle Held in der schier unendlichen US-Serie Vampire Diaries) oder sind „Vegetarier“ (Edward aus der Twilight-Serie: er trinkt kein Menschen-, sondern nur Tierblut und hat als attraktiver und keuscher Buch- und Film-Held ganze Heerscharen von Teenagern in Verzückung versetzt und zu Vampir-Fans gemacht).

Der Musical-Dracula, der zurzeit auf der Detmolder Landestheaterbühne Triumphe feiert, ist irgendwo zwischen jenem grauslichen Blutsauger der Anfänge und dem attraktiven Teenie-Schwarm des 21. Jahrhunderts anzusiedeln.

Die Musical-Handlung folgt grob Stokers Roman, allerdings mit bedeutsamen Lücken (siehe unten). Graf Dracula ist die transsilvanische Einsamkeit leid und zieht in die Metropole London, wo bald eine grausige Serie von Kindermorden die Aufmerksamkeit auf den Vampir lenkt. Klar, dass da die Londoner Männer zu Helden werden, die mit Knoblauch und Kruzifix den Kampf gegen den Untoten aufnehmen.

Und das alles wie im Film: mit schnellen Schnitten, die durch das Hin- und Herschieben eines schmalen Vorhangs symbolisiert werden (so oft, dass es schon anfängt zu nerven - aber immerhin wird das Vorhangschieben geschickt dazu genutzt, das jeweils benötigte Mobiliar auf die Bühne zu bringen). An die Schwarz-Weiß-Zeit erinnert auch das Bühnenbild, das zunächst aus holzschnittartigen Projektionen besteht: das Vampirschloss, gruselig-düster; dann, für die Reise nach London: endlich das prächtige Segelschiff, das wir beim Detmolder Holländer so schmerzlich vermisst hatten; später mal ein Friedhof, mal die Architektur eines viktorianischen Londoner Bahnhofes.

Sobald allerdings Gefühle ins Spiel kommen, ist Schluss mit nüchtern-schwarz-weiß; dann wird die Bühne in buntes Licht getaucht: Kampfszenen sind kalt-blau ausgeleuchtet; bei Begehren/Liebe/Leidenschaft (wobei der Biss in den Hals den Koitus ersetzt) wird’s fast schon psychedelisch gelb-orange-rot…

Tja, und gefühlig wird es oft, wenn der schöne Graf (Lucius Wolter) als Latin Lover die Londoner Damenwelt aufmischt: ob blond ob braun - ihm erliegen alle Frau’n. Erst verfällt ihm die glamouröse Lucy (Katrin Merkl in Monroe- oder Madonna-Manier, später dämonisch mit schwarzen Augenhöhlen und Vampirzähnen); dann macht er sich an die Eroberung der braven Mina (Angelina Biermann im Stil von Stummfilmstars wie Hedy Lamarr oder Pola Negri). Leider fehlt hier die Vorgeschichte: wie Graf Dracula vor Jahrhunderten seine Ehefrau Elisabeta verlor und darüber zum Vampir wurde; seine Leidenschaft für Mina rührt daher, dass er in dieser die Reinkarnation seiner immer noch geliebten Elisabeta sieht.

Aber auch wer diese Zusammenhänge nicht kennt, kann sich nur schwer der geradezu herzzerreißenden Romantik dieser so schaurig-schön-tragischen Liebesgeschichten entziehen! Da sorgt schon die Musik dafür, die aber auch so was von eingängig ist! Leider unterdrückt das schwungvoll aufspielende Orchester manchmal die durchweg guten Stimmen der Protagonisten; allerdings bleibt denen noch genug Gelegenheit, seligmachend auf die Tränendrüse zu drücken: Wenn da der edle Graf mit samtenem Blick und feuriger Stimme (oder war das umgekehrt?) raunt „Ich komme aus der Dunkelheit“, dann fasst einen der Menschheit ganzer Jammer an, erst recht wenn er in Mitleid heischendem Ton klagt: „Du bist so weit fort“. Da möchte man doch wirklich mit Lucy dahinschmelzen und flehen: „Trink mich, saug mich in dich ein“. Jetzt ist man gegen das Gruseln schon so immunisiert, dass man mit Gelächter reagieren kann, wenn diese Lucy - im überlebensgroßen Schattenriss - den klassischen Vampirtod sterben muss (geweihter Pfahl ins Herz, Kopf abschneiden, Knoblauch in den Mund …).

Dramatische Höhepunkte sind dann, wenn sich die frisch (mit einem anderen) verheiratete Mina zunächst tapfer gegen ihre Leidenschaft für den Grafen wehrt („Ich will dich nicht lieben“), um dann doch triumphal zu resignieren: „Ich kann der Macht nicht widerstehn“.

Und daraufhin dann die Klimax, der Höhepunkt: Draculas „Du allein sollst die Meine sein“.

Fürwahr - ein superbes Happy End! Doch welch ein Elend, dass damit noch nicht Schluss ist. Aber die politische Korrektheit fordert nun mal den Tod des Blutsaugers. Das liefert nochmal Stoff für eine superkalifragilistisch-melodramatische Steigerung. Anschließend muss nur noch die inzwischen ebenfalls zur Blutsaugerin gewordene Mina den Vampirtod sterben. Bevor dies von ihrem Ex-Ehemann besorgt wird, fällt gnädigerweise der Vorhang.

P.S.: Sie haben’s bestimmt schon zwischen meinen Zeilen herausgelesen: Das Publikum war außer sich! Langanhaltender Beifall, stehende Ovationen, ekstatisches Kreischen (nicht nur von den zahlreichen, teilweise einschlägig verkleideten Teenagern, sondern gerade auch von Vampirjüngerinnen, die dem Klimakterium näher waren als der Pubertät). Das Landestheater kann mit einem Publikumsrenner rechnen. Der Erfolg sei ihm gegönnt.