Ausbruch aus dem Gefängnis
Es ist in doppelter Hinsicht eine absolut gute Idee von Bühnenbildner Jens Kilian, für Tina Lanik einen großen Kubus zu bauen, in dem die Regisseurin dann Tschaikowskys „Eugen Onegin“ spielen lässt. Einen Würfel, der bis auf die vordere Fläche geschlossen ist und dank Drehbühne rotieren kann. Ein solcher „Guckkasten“ nämlich unterstreicht das Hermetische, die Geschlossenheit der dörflichen und sehr traditionellen Gesellschaft, in der Tatjana zu leben gezwungen ist: zuerst im elterlichen Haus, das buchstäblich völlig verbrettert ist (abgesehen von ein paar schmalen Türen, die nach draußen führen…); dann in einer Dorfgemeinschaft, die nicht nur nach außen, sondern auch nach innen klare Grenzen setzt. Wer da ausbrechen will, hat‘s schwer!
Kilians Kubus hat zweitens auch noch einen klaren Vorteil hinsichtlich der Akustik: er richtet den Gesang von der Bühne aus ziemlich direkt in den Theatersaal, also ins Publikum. Just dieser unmittelbare Höreindruck ist im Dortmunder Opernhaus ansonsten längst nicht immer gegeben. Weil das Bühnenportal irre breit ist und die Stimmen in anderen Inszenierungen und offeneren Bühnenbildern oft merkwürdig reflektiert werden, sie aus der falschen Richtung zu kommen scheinen oder gar nicht erst „über die Rampe“ in den Saal mit seinen 1100 Plätzen kommen. Das ist bei Tina Laniks „Onegin“ anders, nämlich viel besser. Wenn dann doch mal ganz selten einer der Protagonisten vom Orchesterklang zugedeckt wird, liegt das am durchaus verständlichen Temperament des Dirigenten, der seine Blechbläser etwas zu sehr aufdrehen lässt. Aber warum auch nicht? Tschaikowsky ist pure Emotion!
Und um Emotionen geht es ja auch, wenn Tatjana sich zuhause in ihre Bücherstapel vergräbt und in den dicken Bänden etwas ahnt von „der Welt da draußen“. Von dem Glück, von dem sie bislang nur träumen kann und das sie sich verspricht von jenem Eugen Onegin, der fast schon wie ein Exot von außen in ihr Leben tritt. Bekanntlich wird aus diesem einseitigen Liebesgefühl nichts. Dies die erste gescheiterte Beziehung in Tschaikowskys „lyrischen Szenen“. Die zweite ist die Liaison zwischen Lenski und Tatjanas Schwester Olga. Auch die kommt nicht zustande - und endet, weil Lenski auf Onegin fürchterlich eifersüchtig ist und ihn zum Duell herausfordert, für Lenski tödlich, nachdem Onegins Schuss aus der Pistole sein Ziel sicher erreicht! Das bleibt nicht ohne Folgen: Onegin wird zu einem Rastlosen und auch Heimatlosen, der Jahre später an die Tür der High-Society in St. Petersburg anzuklopfen wagt. Denn in dieser zweifelhaften und abermals wieder hermetischen Gesellschaft aus lauter reichen Typen ist auch Tatjana gestrandet als Gattin des Fürsten Gremin. Wieder wird die Bühne von einem Kubus gleichen Ausmaßes wie in den beiden ersten Opernakten geprägt. Jetzt ist er aus Glas und mittendrin steht ein schnieker Oldtimer-Cabrio, ein Ford Mercury Komet. Ein schönes Spielzeug für jene wie Gremin, die nicht wissen wohin mit ihrem Geld. Die reichen grauen Petersburger Eminenzen (Johanna Hlawica steckt diese eiskalten Typen sinngebend in Kostüme von schier endlos sich variierenden Grautönen) sind jetzt Tatjanas Umfeld. Wie sollte sich die poetische, impulsive Frau hier wohlfühlen? Aber entkommen kann sie diesem Umfeld auch nicht mehr. Jetzt ist es Onegin, der nicht abweisend handelt wie im ersten Akt sondern im Gegenteil Einlass begehrt - und wieder scheitert ein Versuch, gemeinsam zu leben und zu lieben.
Regisseurin Tina Lanik, die seit der Jahrtausendwende viel im Schauspiel (Zürich, Wien, Berlin, Bochum, Hamburg) inszeniert und 2014 ihr Debut als Opernregisseurin gegeben hat, erzählt diese Geschichte mit großer Ruhe und Gelassenheit - und dennoch intensiv. Es sind vor allem eindrucksvolle Bilder, die sie entwirft . Eben jenes völlig kahle und kühle Zimmer, in dem Tatjana eingangs als nach Büchern Süchtige ihr Dasein fristet. Später sind Wäscheleinen von Wand zu Wand gespannt, an denen Tatjana reihenweise Briefe (nie an Onegin abgeschickte?) aufhängt. Oder der Festplatz, in dem Tatjanas Namenstag gefeiert und gleichzeitig das Ende der Apfelernte begangen wird. Fast uniform gekleidete Männer und Frauen aus dem Dorf bevölkern da ein dichtes Stoppelfeld. Und aus dem tristen Grau im finalen Glaskubus, wie er schon so ähnlich in der Amsterdamer Onegin-Inszenierung von Stefan Herheim im Jahr 2011 zu sehen war, sticht Gremins Gattin in knallig rotem Kostüm heraus. Solche Bilder prägen sich ein.
Die musikalische Seite dieser Inszenierung? Solide, grundsolide! Da gibt es angefangen von der Titelrolle bis hin zur letzten Nebenrolle keinerlei Ausfälle: Elf Sängerdarsteller, die allesamt gut getragen werden von den Dortmunder Philharmonikern (einstudiert von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, in der ersten Repertoirevorstellung, deren Besuch diesem Bericht zugrunde liegt, dirigiert vom 2. Kapellmeister Philipp Armbruster). Simon Mechlinski changiert als Onegin zwischen anfänglicher Kühle,dandyhafter Blasiertheit und sehnsuchtsvollem Werben mit ebenmäßigem Bariton. Thomas Paul punktet als Lenski vor allem mit seiner Abschiedsarie vor dem tödlichen Duell. Als Tatjana gibt Emily Newton in dieser Inszenierung ihr Rollendebüt. Das ist ihr gut gelungen, nicht zuletzt dank des von ihr glaubwürdig ausgestalteten Wandels vom jugendlich-naiven Mädchen zur von gesellschaftlichen Zwängen bestimmten Frau. Ihre „Briefszene“ im ersten Akt wird natürlich vom Opern-Mélomanen süchtig erwartet. Newton liefert sie mit großem Enthusiasmus - wenn ihr auch das letzte Quäntchen an Lodern und Knistern noch fehlt. Ileana Mateescu als Olga lässt ihren schön gefärbten Mezzo funkeln, Luke Stoker legt in seinen eher kurzen Auftritt als Fürst Gremin durchaus großes Selbstbewusstsein. Schön auch Almerija Delic, die mit ihrem satten Mezzo als Gutsbesitzerin Larina klar signalisiert, wer das Sagen hat – aber immer sympathisch!