Mit einem Joint wird der Mond zum Freund
Frau Luna geht immer. Paul Linckes burlesk-fantastische Ausstattungsoperette, angesiedelt zwischen Berliner Milljöh und Weltenraum, teils im Stil einer glitzernden Revue gehalten, mit all ihren schmissigen Schlagern und manchen traumseligen Melodien, hat im Grunde seit über 100 Jahren Konjunktur. Schon der Uraufführung 1899 war opulenter Erfolg beschieden, und die überarbeitete Fassung von 1922 ist bis heute auf den Spielplänen landauf, landab zu finden. Die „Berliner Luft, Luft, Luft“ hat längst den Status eines Gassenhauers angenommen, gilt vielen gar als Hymne der Stadt. Dort gibt’s Frau Luna sowieso regelmäßig, in unseren Breiten haben kürzlich Münster und Mönchengladbach das (frivole) Treiben auf dem Mond betrachtet, Dortmund wird im Januar folgen. Und jetzt, ganz frisch, wagt Hagen den Blick auf den seit jeher mythenumwobenen Erdtrabanten – die letzte Inszenierung liegt immerhin schon 16 Jahre zurück.
Wie stets, wenn es um Erfolg geht, hat auch die ungebrochene Begeisterung für dieses Stück viele Eltern. Umso erstaunlicher ist es, dass Lincke zu Lebzeiten, als Vater der Berliner Operette, hoch verehrt wurde, sein Werk jenseits von Frau Luna heute indes kaum mehr eine Rolle spielt. Oder gibt es noch irgendwo Im Reiche des Indra oder Lysistrata zu sehen? Und ehrlich: Walter Kollo, Mitstreiter des Genres Berliner Operette, ist den Bühnen doch längst nur noch ein Name.
Vielleicht hatte Lincke ja einen untrüglichen Riecher für seinen wichtigsten Verbündeten in Sachen Erfolg, den Zeitgeist. Die Aufbruchsstimmung in der Reichshauptstadt um 1900, der Glaube an den (technischen) Fortschritt, gewissermaßen der symbolbehaftete Griff nach den Sternen, schlug sich musikalisch nicht zuletzt in allerlei „Mondrevuen“ nieder. Ausgehend von Jules Vernes fantastischer Erzählung Von der Erde zum Mond, geschrieben 1865, komponierte Jacques Offenbach einen namensgleichen, opulenten Vierakter, allerdings mit utopiekritischen Akzenten. Lincke indes verleiht seiner außerirdischen Gesellschaft den Charme des Allzumenschlichen – auf dem Mond geht’s eben nicht viel anders zu als in Berlin, höchstens etwas mondäner und freizügiger.
Was der Komponist vielleicht ahnte, freilich nicht wissen konnte, ist unsere über alle Jahrzehnte hinweg ungebrochene Faszination für diesen Himmelsnachbarn. Und Frau Luna profitiert davon, bis heute. Selbst wenn, wie jetzt in Hagen, Regisseur Holger Potocki die Dialoge ein bisschen umschreibt, um die Rahmenhandlung in eine nahe Zukunft zu transferieren, ins Jahr 2023. Da sitzen dann eben auf quietschgelbem Sofa, vor einer steril weißen Einrichtungswand, drei Tüftler und Hipster beieinander, nicht reich und ein wenig sexy, im modernen Berlin, dessen BER nie eröffnet, vielmehr längst abgewickelt wurde. Fritz Steppke will die Ruine für einen Symboleuro kaufen, hat kommerziell bemannte Mondflüge im Kopf, doch daraus wird nichts. Das Trio ergibt sich einem Trostjoint – jaja, die „Berliner Luft“. Und plötzlich geht’s ab zum fernen Planeten, zusammen mit der kalt kalkulierenden Hauswirtin Frau Pusebach, die beim Hipster Pannecke gern die Domina rauskehrt. Nur ach, auf dem Mond findet sich neben amourösen Verwicklungen sowie allerlei außerirdischem Volk ein nie vollendeter intergalaktischer Flughafen...
Die Regie nimmt alles von der lockeren Seite, wenn auch die längeren Dialogphasen zu Beginn etwas steif wirken. Die eingebauten filmischen Elemente, eine Prise „Star Wars“-Musik, Darth Vader als Mars, sein Gegenpart Venus wiederum als bubiköpfiges „Roaring Twenties“-Mädel sind charmante Hingucker. Weniger geglückt das Luftballett: Die Stewards und Stewardessen mit Engelsflügeln haben Andrea Danae Kingston nicht gerade zu einer himmlischen Choreographie animiert – eher unbeholfen peinliche denn schwerelose Bewegungsmuster. Da sind die Travestie-Anspielungen und erotisch angehauchten Szenen, denen sich Regisseur Potocki lustvoll hingibt, von deutlich pikanterer Natur. Und Lena Brexendorff, für Bühne und Kostüme verantwortlich, schöpft im Mondakt gekonnt aus dem Vollen. Viel Fantasy, ein wenig eingebauter Futurismus mit revuekonformer Showtreppe, Prinz Sternenstaub als Spacecowboy, Lunas Zofe Stella als Oktopus, Frau Luna selbst im hellen, engen Glitzerfifi – Augenfutter allenthalben.
Hagen präsentiert uns die große Wohlfühlnummer, das nette Operettenland, wo selbst die Nummer „Ist die Welt auch noch so schön, einmal muss sie untergeh’n“, von Lincke als launig schmissiger Marsch komponiert, jede kritische Reflexion unterbindet. Zumindest taugt der Abend wunderbar, sich die schnöde Welt ein Weilchen vom Hals zu schaffen. Das Publikum goutiert’s, bis hin zur Unsitte, seine Beobachtungen gleich dem jeweiligen Nachbarn mitzuteilen – nicht etwa flüsternd, sondern halblaut. Nun ja, wir wenden uns umso konzentrierter der musikalischen Umsetzung zu. Da irritieren, verstören, ja verärgern allerdings die Mikroports. Ist es also schon so weit gekommen, dass ein Ensemble nicht mehr willens oder in der Lage ist, ohne Verstärkung Operette zu singen? Wird das Genre so gering geachtet, dass es auf Stimmschönheit und Farbvaleurs kaum mehr ankommt? Definiert sich die von ihrem Ursprung her „kleine Oper“ dann bloß als aufgemotzte Musicalschwester?
Letzthin muss das jedes Musiktheater für sich beantworten. In Hagen hat immerhin, nicht nur, aber an erster Stelle, die junge Koloratursopranistin Cristina Piccardi gezeigt, dass ein Mikro eigentlich überflüssig ist. Kraft Geschmeidigkeit, Eleganz und klare Fokussierung zeichnen ihre Stimme aus. Zu Recht heimst sie den meisten Beifall ein, mit ihr Dirigent Rodrigo Tomillo, als 1. Kapellmeister neu am Haus, der das Zeug zum Publikumsliebling hat. Zwar gerät ihm Linckes Marschpalette etwas grell, doch anderes ist klar durchgeformt, stimmungsvoll und präzise musiziert. Also: Viel Applaus, am Ende Klatschmarsch – wir sind dann flugs raus.