Übrigens …

KUNST MUSS (zu weit gehen) oder DER ENGEL SCHWIEG im Köln, Oper

Die Innigkeit der Trompeten

Die Kölner Oper hat die Saison nicht gut begonnen. Einem dekorativ-richtungslosen Tannhäuser folgten eine allenfalls solide Traviata und eine arg profane Fledermaus, wenn auch alles auf gutem musikalischen Niveau. Wie häufiger geschehen in letzter Zeit, gelingt es dem Haus nun, seine Bilanz durch Hinwendung zum Neuen, zum musikalischen - und hier auch theatralischen - Experiment entscheidend aufzubessern.

KUNST MUSS (zu weit gehen) oder DER ENGEL SCHWIEG spielt im Titel sowohl auf einen frühen, posthum erschienen Roman Heinrich Bölls an als auch auf die Rede, die der Kölner Schriftsteller, der am 21. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, 1966 zur Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses hielt. Und die war ein kleiner Skandal, weil Böll nicht jene Gesellschaft feierte, die sich ja immerhin einen Theaterbau als wesentliche Stätte kultureller Repräsentation leistete, sondern im Gegenteil eine wesentlichere Rolle der Kunst postulierte und forderte.

Interessanterweise hat die Kölner Aufführung mit dieser Forderung, oberflächlich betrachtet, offenbar wenig im Sinn. Helmut Oehring und Stefanie Wördemann haben eine Zwei-Generationen-Versuchsanordnung geschaffen. Oehrings Kinder und die einiger Musiker des grandiosen Ensembles Musikfabrik stehen im theatralischen Zentrum der Aufführung, die 12jährige Mia Oehring trägt sogar eine Hauptlast der Textvermittlung. Am Ende treten Bölls Sohn Rene und seine Enkelin Samay dazu. Wir erfahren also sinnlich Distanz: „Hundert Jahre sind eine lange Zeit!“,  wie Loriot seinerzeit bei seiner parodistischen Lobrede auf die Berliner Philharmoniker äußerte. Wir sind aufgerufen, uns unser Böll-Bild selbst zu machen, den Literaturnobelpreisträger von 1972 für uns neu zu erobern. Und dafür werden uns Ausrisse aus Leben und Werk vorgeworfen, kommentiert durch Oehrings Originalmusik, durch die Stimmen und Bewegungen der Kinder, durch Spiel und Aktion der ‚Musikfabriker‘ und von Emily Hindrichs, Adriana Bastidas-Gamboa und Dalia Schaechter aus dem Ensemble des Hauses. Die erscheinen etwa in einer sehr eindrücklichen Szene zusammengedrückt, fast ineinander verschlungen, wie schmiegsame Nornen oder eine sitzende Laookoon-Gruppe. Immer wieder treten Musiker nach vorne, heraus aus der Gruppe, formen Marco Blaauw und Christine Chapman mit großer Lockerheit und Wärme einen umwerfend gespielten und bewegten Trompeten-Pas de Deux, erzählen ein Tubist und ein Posaunist von sich, spielt ein Streichquartett auf dem Boden liegend. Und die Kinder hören zu. Und spielen. Und sprechen. Und lernen vielleicht etwas. Vielleicht können wir das auch.