Glück auf, der Steiger kommt
Der „harte Kern“ des internationalen Opernspielplans beinhaltet etwa vierzig Werke. Aber natürlich besteht bei den Theatern massiver Ehrgeiz, aus altgewohnten Pfaden auszubrechen. Davon profitiert unter anderem die Barockoper, welcher freilich zusätzlich zugutekommt, dass es inzwischen eine Fülle von Countertenören gibt, die sich gerne in Bibliotheken umsehen, um attraktive, für die einstigen Kastraten geschriebene Werke ausfindig zu machen. Aber auch aus nachfolgenden Jahrhunderten werden Werke neu erprobt. Für Bizets Perlenfischer ergibt sich beispielsweise eine erstaunlich günstige Aufführungsstatistik weltweit, die lange verdrängte Tote Stadt Korngolds kann wieder endgültig dem festen Repertoire zugerechnet werden, während eine zunächst vielversprechende Schreker-Renaissance abebbte, selbst wenn die Werke punktuell weiter beachtet werden.
Eine etwas seltsame Bilanz ergibt sich bei Heinrich Marschner. Der erzromantische Komponist taucht in den Spielplänen der jüngeren Vergangenheit vor allem mit dem Vampyr auf (auch an kleinen Häusern wie Koblenz 2017, Halberstadt 2012). Für Hans Heiling konnte lediglich eine Berliner Produktion an der Deutschen Oper (2001) eruiert werden. Auch Wuppertal bot dieses Werk vor langem. Für Templer und Jüdin setzten sich Wexford (1989) und Gießen (2001) ein. Die Marschner-Diskografie beinhaltet überdies den Holzdieb.
Die bescheidene Heiling-Statistik ist mit der Musik des Werkes nicht erklärbar, denn sie besticht mit hochromantischem Impetus, gelegentlich auch kompositorischen und dramaturgischen Wagnissen (Ouvertüre nach dem szenischen Vorspiel, ausgedehntes Melodram von Mutter Gertrude). Die Wirkung ist auf diversen Gesamteinspielungen des Werkes nachzuprüfen. Eine Hypothek stellt freilich die Handlung dar, welche die Welt der Geister in den Mittelpunkt rückt. Die Unterirdischen sind süchtig nach der Oberwelt, einem Sehnsuchtsland, dessen Idealität sich dann aber nicht bewahrheitet, wie unter anderem die vielen Undinen-, Melusinen- und Rusalka-Geschichten zeigen. Das hatte auch die Königin der Erdgeister erfahren müssen, die ihren Sohn Hans Heiling von einem irdischen Manne empfing.
Natürlich kann nicht empfohlen werden, die Marschner-Oper im Stile eines Novalis (Heinrich von Ofterdingen), eines Theodor Körner oder der Gebrüder Grimm (Heilings Felsen) zu inszenieren. Aber einem radikalen Transport in die Jetztzeit wie jetzt in Essen verweigert sich das Werk alleine durch sein Libretto. Der Text von Eduard Devrient birst nur so vor plakativem romantischem Wortschatz; Titulierungen wie „Geisterfürst der Berge“ oder „Königin“ gibt es zuhauf. Sie sind einfach nicht zu überhören, anders als in Wagners Ring, welcher ein überzeitliches Weltendrama entwirft, wo die historische Wortwahl unter Umständen zweitrangig wird. Heiling hingegen bietet eine vergleichsweise „naive“ Story, welche unter Interpretationsehrgeiz ersticken kann.
Dies ist der Fall bei Andreas Baesler. Als ehemaliger Student an der Folkwang Universität fühlt er sich der Ruhgebietsstadt vermutlich besonders verbunden und kramt nun „grämliches Zeug“ (Siegfried) lokaler Couleur aus. Er fasst die Krupp von Bohlen und Halbach-Dynastie ins Auge, vor allem ihren letzten Vertreter, Alfred Krupp. Seine Verstrickung in die Rüstungspolitik der Nazis lässt Baesler beiseite. Er konzentriert sich auf den „großen Einsamen“, der - malträtiert von seinen Eltern - kaum je wirklich glücklich gewesen sein soll. Das passt in den äußeren Umrissen sicherlich zur Heiling-Figur, vereinseitigt freilich auch dessen Charakter. Ein so sensibler, verletzbarer Firmenboss, wie in Essen vorgeführt, ist generell kaum vorstellbar.
Die Erdgeister werden zu Kumpeln im Kohlebergwerk. Während der Ouvertüre läuft ein Film über sie und ihr Milieu ab - penetrant. Und da die die letztendliche Chefin der Unterwelt, die Königin der Erdgeister, in Gestalt von Rebecca Teem (gleißender Sopran mit etwas viel Vibrato) wie eine etwas tumbe Mutterglucke wirkt, driftet dieser Lebensbereich zusätzlich ins Vage. Die Titelfigur porträtiert der großartige Heiko Trinsinger (vor zwei Jahren trat er an der Komischen Oper Berlin auch im Vampyr auf), wirkt attraktiv in seiner maskulinen Eleganz und baritonalen Noblesse, welche sich in der bekannten Arie „An jenem Tag“ sogleich bestechend manifestiert. Aber einen wirklich triftigen Charakter vermag auch er nicht herbeizuzaubern. Allerdings ist ihm ein spektakuläres Finale gegönnt: er sprengt am Schluss sein Imperium in die Luft (Zeche Zollverein?), probates Bild für eine persönlich Tragödie.
Mit einem (überlangen) Stammtischgeschwätz in Ruhrdeutsch beim Fest zu Ehren der heiligen Barbara versucht die Regie, Couleur locale zu beschwören. Das geht daneben wie anderes auch. Die finale Hochzeitsfeier mit dem Bergmannslied „Glück auf, der Steiger kommt“ zu garnieren (Sonderauftritt des Bergwerksorchesters Consolidation) geht noch an, zumal es sich in Marschners Musik einigermaßen stimmig einfügt. Harald B. Thor liefert ziemlich realistische Architekturen; die Kostüme von Gabriele Heimann sind modern, was sonst?
Frank Beermann, respektiert nicht zuletzt wegen seiner überzeugenden Opernausgrabungen sowie Abseitiges im sinfonischen Bereich, gibt mit den gut disponierten Essener Philharmonikern auch Marschners wunderbarer Musik ausdrucksvolles Profil. Der Chor singt ohne Fehl und Tadel. Mit ihrem hellen, fraulichen Sopran gewinnt sich Jessica Muirhead als Anna merklich Sympathien im Publikum, zu Recht. Bettina Ranch als noch recht jugendliche Gertrude, von der Regie oft etwas sinnentleert in Bewegung gehalten (der Fernseher bei ihrem Melodram ist freilich okay), singt mütterlich ausdruckvoll, ihren Sprechtext versteht man nicht immer. Die vokale Leistung von Jeffrey Dowd (Annas Liebhaber Konrad) macht frösteln: eine ziemlich ausgetrocknete Tenorstimme, die zum „burggräflichen Leibschütz“ so gar nicht passen will.
Nein, in Essen wird Marschners Hans Heiling der Opernwelt nicht wiedergewonnen. Vielleicht tröstet der Mitschnitt für Deutschlandfunk, Westdeutscher Rundfunk und CD ein wenig. Aber nach Smetanas Verkaufter Braut und Verdis Trovatore neuerlich eine szenisch derart fragwürdige Aufführung zu erleben, stimmt missmutig. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass erste Pressereaktionen über die Essener Produktion positiv ausfielen.