Tapfer in den Tod
Es war der gesamte Konvent des Karmel von Compiègne unweit von Paris, der anno 1794 der Guillotine zum Opfer fiel: Sechzehn Nonnen, liquidiert wegen angeblich subversiver Aktivitäten gegen die Französische Revolution. Das Ereignis ist historisch verbürgt. Gertrud von Le Fort hat daraus ihre Novelle Die Letzte am Schafott entwickelt, Georges Bernanos ein Opernlibretto, das Francis Poulenc vertont hat: Dialogues des Carmélites, 1957 an der Scala in Mailand uraufgeführt. Auch nach über 60 Jahren hat Poulencs Musik nichts an Faszination und Wirkung eingebüßt. Und wenn sich dann noch ein Regisseur wie Ben Baur dem Stoff mit Sensibilität und Tiefgang, mit Intelligenz und ohne jede plakativen Mätzchen nähert, wird daraus ein großer Opernabend von enormer emotionaler Dichte.
Es sind die höchst unterschiedlichen Beziehungen der Karmelitinnen untereinander, ihre je eigenen Reaktionen auf das, was im Kloster und um es herum geschieht. Das qualvolle Sterben der alten Priorin etwa, das sie selbst an Gott zweifeln lässt, während die junge Constance die Vision hegt, jemand anderes stürbe deshalb leichter. Oder der Umgang mit der gerade erst eingetretenen, aus adeligem Hause stammenden Blanche, die im Kloster Ruhe und Sicherheit vor den Wirren der Revolution sucht und ihre Angst bewältigen möchte - eine Angst, die ihr erst der bewusste Gang zum Schafott nehmen wird. Mutter Marie, die Novizenmeisterin und Madame Lidoine, die neue Priorin, sind eben solche Individuen. All diese ausgeprägt persönlichen Profile arbeitet die Regie subtil heraus. Da ist viel Psychologie mit im Spiel, entsteht ein ganzes Geflecht aus Gefühlen.
Als Bühne dient anfangs die klassizistische Empfangshalle jenes Marquis de la Force, dessen Tochter Blanche entschieden hat, den Schleier zu nehmen. Die ansehnliche Halle mutiert dann zum Kapitelsaal des Klosters, um schließlich auseinander geschoben und gegeneinander verdreht zu werden – dies das Einfallstor der revolutionären Volksmassen, die den Henker gleich mitgebracht haben. Kurz zuvor fiel ihnen bereits der Marquis de la Force zum Opfer. Ihrem gerade abgelegten Gelübde folgend, das Martyrium zu wählen, beschreiten die Nonnen ihren letzten Weg. Mit einer schlichten Kerze in der Hand. Immer wenn das Fallbeil heruntersaust, erlischt jede einzelne - eine einfache, aber wahnsinnig starke und beklemmende Lösung, die Ben Baur da gefunden hat. Blanche ist die Letzte, die ihrem Tod entgegen geht.
Die Inszenierung besticht durch ihre starken, sich auf das Wesentliche konzentrierenden Bilder, Baurs sensible Personenführung und die raffiniert „choreografierte“ Projektion von überdimensionalen Schatten auf die Bühnenwand. Mal werden, einem Scherenschnitt gleich, betende Schwestern angedeutet, mal der mit Mistgabeln und Prengeln bewaffnete Mob von der Straße.
Nicht zuletzt profitiert diese Inszenierung vom singenden Personal auf der Bühne. Da ist Noriko Ogawa-Yatake, das Gelsenkirchener Opern-Urgestein, die als Alte Priorin herzzerreißend um ihr Leben bangt. Almuth Herbst verkörpert die Rolle der Mutter Marie mit kernigem und Unerbittlichkeit ausstrahlendem Mezzo, Bele Kumberger die der Blanche. Ganz hautnah lässt sie sängerisch wie darstellerisch Angst und Lebenszweifel erfahrbar werden. Ganz ausgezeichnet, wenn nicht gar eine Idealbesetzung: Dongmin Lee als naive und mit unschuldig weißem Sopran singende Constance - eine helle, ebenmäßige, leuchtende Stimme, unfehlbar in der Intonation. Demgegenüber Petra Schmidt als Madame Lidoine, die sich als neue Priorin rasch Respekt im Konvent verschafft - und dies mitunter mit durchaus rauen Tönen! Silvia Oelschläger und Lina Hoffmann komplettieren die Riege der weiblichen Hauptakteurinnen; Piotr Prochera und Ibrahim Yesilay überzeugen als Marquis und Chevalier de la Force, nicht zu vergessen Edward Lee, Apostolos Kanaris und Zhive Kremshovski in kleineren Nebenrollen.
Rasmus Baumann steht am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen. Er bietet einen weit aufgefächerten, farbenreichen und transparenten Klang und entwickelt eine stellenweise gespenstige Atmosphäre, ganz besonders natürlich im Opern-Finale, wenn die Nonnen mit einem berührenden „Salve Regina“ auf den Lippen zur Hinrichtung schreiten. Das geht unter die Haut!