Dunkle Engel, lichte Engel
„Leben“ will Prior, „mehr Leben“. Es lockt ihn weder die Inthronisierung zum Propheten der Apokalypse noch ein Teilhaben an Himmlischer Glückseligkeit.
Angels in America - das ist Tony Kushners szenische Endzeitvision, bestimmt von Reagan-Ära und Ausbreitung von AIDS. In New York angesiedelt werden vier schwule Männer gezwungen, sich angesichts der Krankheit mit ihrer Identität auseinanderzusetzen in einer Zeit, in der Homosexualität noch ein Makel war, dessen Bekanntwerden zur Existenzbedrohung werden konnte. Doch es geht um weit mehr als um Unterdrückung und gesellschaftliche Ächtung. Auf dem Gebiet der Akzeptanz von Homosexualität in westlichen Demokratien hat sich seit der Entstehungszeit viel getan. Doch Kushner webt in seiner Szenenfolge ein kunstvolles Geflecht aus realen Situationen, Träumen , Drogenvisionen und Angstzuständen. So schafft er Psychogramme menschlicher Existenz auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse.
Diesen spürt Peter Eötvös in seiner 2004 uraufgeführten Oper Angels in America nach. Für all seine Protagonisten findet er eine fein ausdifferenzierte Tonsprache, die nuanciert Ängste, Sehnsüchte aufspürt, aber auch Resignation, polternde Wut, aufblühende Hoffnung und kleine Momente des Glücks.
Da ist Louis, Spross einer jüdischen Familie, der mit der AIDS-Erkrankung seines Freundes Prior nicht umgehen kann und aus der Beziehung flieht in ein Leben voller Selbstvorwürfe. Da ist Roy Cohn, skrupelloser und korrupter Anwalt, der seine Diagnose in Leberkrebs umwandeln lässt, schließlich einsam unter Albträumen stirbt. Und das junge Mormonenehepaar Joseph und Harper Pitt. Joe wehrt sich gegen das Ausleben seiner Homosexualität, während Harper sich immer weiter vor der Realität in watteweiche Valium-Träume flüchtet.
Ihre flüchtigen und intensiven Begegnungen setzt Regisseur Carlos Wagner in intensive Bilder um, für die ihm Christophe Ouvrard ein kongeniales Bühnenbild baut. Links ein Waschsalon, rechts ein typisch amerikanischer Fast-Food-Schuppen und in der Mitte eine öffentliche, angegammelte Toilette, ein Ort in der in Zeiten der Unterdrückung anonymer Sex unter Männer stattfand – im „Fachjargon“ eine „Klappe“. Wagner zeichnet dort ungeheuer einfühlsame Charakterstudien. So lässt er Harpers Traum vom einer Flucht in die unberührte, unschuldig-weiße Welt der Antarktis in eine Kopulation mit einem Eisbären gipfeln. Roy Cohns Nemesis hingegen ist Ethel Rosenberg. Zur ihrer Hinrichtung hatte er im spektakulären Spionageprozess der 1950er Jahre beitragen. Nun erscheint sie als Nachtmahr an seinem Totenbett, setzt sich auf einen Klappstuhl, bringt den Spaten, um sein Grab zu schaufeln gleich mit.
Eindrückliche Szene ohne jeder Überfrachtung sind zu erleben. Und diese Eindrücklichkeit findet in der musikalischen Umsetzung bruchlos ihre Fortsetzung. Das ist vor allem dem Sinfonieorchester Münster unter Generalmusikdirektor Golo Berg zu danken. Fein, ganz fein wird Eötvös’ Partitur behandelt. Fast wie ein rohes Ei, damit auch nichts zerbricht, zerschellt oder verloren geht. Das ermöglicht es dem Publikum, ganz viel nachzuvollziehen, aber auch ganz sinnlich die Musik schlicht zu spüren. Sängerisch gelingt ebenfalls ein wunderbares Zusammenspiel, eine absolut überzeugende Ensembleleistung. Yosemeh Adjej, Filippo Bettoschi, Kathrin Filip, Kristi Aanna Isene, Suzanne McLeod, Christian Miedl, Christoph Stegemann und Christian Miedl übernehmen mehrere Rollen und ergänzen sich auf das Beste.
Ein Manko allerdings schwebt über der Inszenierung. Aus urheberrechtlichen Gründen darf nur englisch übertitelt werden. Das macht es schwer für das Publikum – zwingt zur gleichzeitigen Konzentration auf Musik, Bühnengeschehen und Text. Deshalb sei eine gute Vorbereitung auf den Besuch angeraten. Wer sich darauf einlässt, dem wird ein tief eindrückliches Erlebnis zuteil.
Im zweiten Teil steht das Krankenbett Priors im Zentrum der Bühne. Ein Engel erscheint, bezeichnet ihn als den „Auserwählten“, führt ihn in den Himmel. Dort erwarten ihn Figuren aus dem „Wizzard of Oz“ und verheißen ihn quasi eine Existenz „somewhere over the Rainbow“. Doch Prior will nur eines: „Leben, mehr Leben“.