Ein Landei in der Großstadt!
Das steht es nun mitten in Berlin, das unschuldige Mädchen vom Lande! Mit einem befreiten Lächeln im Gesicht Ausgebüxst, um ihrer großen Liebe nachzureisen: Johnny, dem attraktiven Rocksänger, den sie erst vor ein paar Wochen kennen gelernt hat. Aber Berlin ist, als sie aus dem Zug steigt, alles andere als die erhoffte große Freiheit, Berlin ist ein riesiger Dschungel, ein Biotop aus lauter Menschen jedweder Couleur, denen das Mädchen - nennen wir sie Nathalie - daheim noch nie begegnet ist: punkigen Jungs, Obdachlosen, einer abgestürzten Lady, engstirnigen Kleinbürgern, einer stinknormalen Proll-Familie und, und, und… Und das alles auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Linie 1! Nathalie wird sich noch wundern, wem sie da noch so alles begegnet…
Linie 1 ist das Musical, mit dem das Berliner GRIPS-Theater kurz nach der noch wenig beachteten Uraufführung 1986 ziemlich große Erfolge feiern konnte und das bis heute gespielt wird. Damals stand noch die Berliner Mauer, es gab „den Westen“ und „den Osten“. Das ist inzwischen Geschichte. Aktuell ist Linie 1 dennoch. Oder: schon wieder - in Zeiten, da man jüdischen Mitbürgern vor die Füße spuckt, Schwule als dreckige Schweine tituliert oder Wohnungslose totgeschlagen werden. Das ist bittere Realität im Jahr 2018.
Die Inszenierung von Alexander Becker in der wieder eröffneten Spielstätte der "Jungen Oper" schafft den nötigen Raum, über den Zustand unserer Gesellschaft nachzudenken, wie er heute sicher nicht nur in Berlin sondern auch andernorts zu diagnostizieren ist. Mal mit leisen Tönen, mal laut und krawallig, mal mit subtilen Standbildern, die Zeit zur Reflexion bieten - und gern auch mal mit (schwarzem) Humor. Auf jeden Fall aber mit Bühnenakteuren, die sich durch und durch mit ihren Rollen identifizieren und deshalb so absolut glaubwürdig und überzeugend in ihre multiplen Rollen schlüpfen. Da ist der biedere grün karierte Buchhalter mit Aktentasche, der grantelt, wie und wo seine Steuergelder verschleudert werden; die kinderreiche Familie auf ihrem Weg zum Picknick, zu dem es gar nicht kommen wird. Und die ach so gnädigen Witwen aus Wilmersdorf mit ihren Erinnerung an die Zeiten des „seligen“ Adolf, in denen „auch nicht alles schlecht“ war. Natürlich tummeln sich vor den gekachelten Wänden der U-Bahn-Station auch etliche Wohlstandsverlierer, die miteinander zanken und ein paar dumme Gören mit Null Bock auf Schule. Nicht zu vergessen das jüngere Ehepaar im Jogginganzug bei seinem U-Bahn-Trip: die Frau unterstellt ihrem Gatten irgend eine Affäre mit einer anderen. Und er hat keine Chance, diesen Vorwurf abzuwehren. Loriot lässt grüßen! Solche Momente verströmen immer auch etwas tragisch Komödiantisches. Und mittendrin das Mädchen, Nathalie!
Linie 1 ist auch eine logistische Herausforderung. Schließlich agieren in der Dortmunder Inszenierung nicht weniger als 23 Darstellerinnen und Darsteller in wechselnden Rollen. Die Regie hat, was die Personenführung angeht, jedes Detail genau im Blick. Und alles wirkt durch und durch natürlich. So wie auch die Bühne - eine Berliner U-Bahn-Station! Die sich aber flugs auch in einen Waggon verwandeln lässt. Oder Spielfläche für einen Platz vor dem Eingang zu Bahn bietet, auf dem die Obdachlosen ihr Leben verbringen. Aber was heißt da schon „Leben“? Es herrscht ein raues Klima - und Nathalie sucht ihren Johnny, macht dabei ebenso Bekanntschaft mit Curry-Trude wie mit Mondo, dem Zuhälter. Das pralle Leben halt… bis hin zum Suizid von Lumpi, dem Girl vom Schlesischen Tor, das sich in auswegloser Situation vor den Zug wirft und einen ominösen „jungen Mann im Mantel“ animiert, über „das Leben“ zu philosophieren. Berührende Momente…!
Und das Ende? Nathalie hat gecheckt, dass es mit ihrem Johnny nichts werden wird. Daran ändert auch nichts dessen finaler Auftritt als Sänger, der in Alexander Beckers Regie eine kleine Überraschung liefert. Da klingt es auf einmal wie Anno 1986 von „Clowns und Helden“:„Ich liebe Dich“! Das passt wie Faust aufs Auge! Wobei Johnny damit zu retten versucht, was nicht mehr zu retten ist. Aus. Vorbei. Das Mädchen hat sich emanzipiert und eine Perspektive gefunden im Großstadtchaos: Ein strahlender Held wird nicht mehr gebraucht. Das Scheinwerferlicht erlischt. Und geht kurz wieder an. Ein anderes junges Mädchen betritt die Szene, mit einem befreiten Lächeln auf ihrem Gesicht.
Stark ist diese Inszenierung! Mit überschaubar großen technischen Mitteln wird viel Sinnfälliges erreicht, das Ensemble hat sichtbar Riesenspaß an dieser so gar nicht spaßigen Geschichte, vor allem gibt es jede Menge fantastischer Kostüme zu bewundern, die einen geradezu überbordenden optischen Eindruck hinterlassen. Und es wird ganz, ganz toll gesungen, durch die Bank! Da lassen die Mitglieder des Opernclubs Tortugas keine Wünsche offen. Auch nicht die Band „Orange Groove“ der Musikschule Dortmund. Da ist balladenhafter Schmelz ebenso gut aufgehoben wie angetriebener Rock-Sound. Formidabel! So wie die gesamte Produktion.
Angefixt? Lust darauf, das Event selbst zu sehen? Alle Vorstellungen sind leider restlos ausverkauft. Aber die Oper Dortmund wird sicher für Zusatzvorstellungen sorgen. Das muss sie ganz einfach, denn diese scharfe Produktion darf einfach nicht in der Versenkung verschwinden, „abgespielt sein“. Viel mehr Menschen müssen Gelegenheit haben, all‘ den schrägen Charakteren zu begegnen. „Fahr‘ mal wieder U-Bahn“ - in Dortmund am besten direkt in die „Junge Oper“!