Sowjet-Horror
Monoton ist die Arbeit in der Fabrik. Ewig die gleichen Bewegungen und Handgriffe. In ihrer Uniformität militaristisch mutet die Arbeitskleidung an. Und wiederholt hämmert eine Stimme aus dem Off den Menschen das Primat des Kollektivs ein, fordert sie zur Körperertüchtigung auf, denn „ mens sana...“. Eine triste, totalitäre und fremdbestimmte Welt ist das, offenbar nur auszuhalten mit den „Glückspillen“, die das Aufsichtspersonal den Arbeitern morgens und abends verabreicht. Dann können sie sich hereinträumen in eine heile, schöne Welt, in der ihre Wünsche wahr werden. Und da die Medikamente offensichtlich nicht ausreichen, gibt es vor Feierabend noch eine Sitcom aus dem Fernseher – so etwas wie das Sahnehäubchen der Verdummung.
Wir befinden uns in Moskau, genauer gesagt in einem Neubauviertel der fünfziger Jahre. Hier spielt Dimitri Schostakowitschs Operettenrevue über die Wünsche und Sehnsüchte „kleiner Leute“: Moskau - Tscherjomuschki. Für Regisseur Dominique Horwitz ist das ein Ort geknechter Menschen, deren Träume allerhöchstens für eine Seifenoper auf dem Bildschirm taugen, denn eine Handlung findet auf der Bühne nicht wirklich statt. Horwitz legt seinen Fokus nur auf die Darstellung einer entmenschlichten sozialistischen Arbeitswelt. Die entwickelt im Lauf des Abends eine Einseitigkeit, die letztlich in eine für das Publikum ermüdende Monotonie gipfelt. Merke: Nicht nur „mens sana in corpore sano“ gilt, sondern auch „bis repitita non semper placent“.
Durch sein recht eindimensionales Konzept kann Horwitz völlig auf die Entwicklung von Charakteren verzichten. Das stets orange gekleidete Kollektiv lässt auf Dauer kalt und anfängliches Mitleid und Entsetzen wandeln sich in Gleichgültigkeit. Ein Quäntchen mehr Individualität hätten die Leiden der Massen sicher deutlich geschärft. So führt Horwitz’ Sicht auf Moskau - Tscherjomuschki auch dazu, dass es wenig Bewegung gibt auf der Bühne und viel Gesang an der Rampe. An diesem Eindruck ändert auch der Bühnenzauber im zweiten Teil nichts. Volksbelustigungen wie ein Ritterspiel und eine bunte Blickfang-Tanzeinlage müssen an diesem Abend wie Fremdkörper daher kommen und generieren eher Fragezeichen. Was soll das jetzt?
Dimitri Schostakowitschs Melodien jedenfalls sprechen - gegründet auf eine ganz gehörige Portion Volkston und gewürzt mit einem Spritzer ironischer Ausbrüche - von Sehnsüchten und Ängsten, von Wehmut und Hoffnung. Hier sind es keine Adligen oder Großbürger, sondern „Arbeitsleute“ Sie offenbaren, dass auch in der Sowjetunion wirkliche Menschen gelebt, gefühlt haben und keine entmenschlichten Arbeitsroboter. Das lässt Horwitz außen vor.
Stefan Malzew und die Neue Philharmonie Westfalen gehen das Ganze schwungvoll an, stimmen ein Loblied an auf die sprichwörtliche russische Gastfreundlichkeit, lassen sehnsuchtsvoll den Wunsch nach einem eigenen trauten Heim erklingen. Ob vielfacher Wiederholungen in der Partitur muss es das Lied vom „blühenden Faulbeerbaum“ in der nächsten Zeit dann allerdings auch nicht mehr sein, mag er auch „Herzkirsche“ oder „Vogelbeere“ heißen. Da hat es Schostakowitsch ein wenig übertrieben.
Alexander Eberle hat gute, sehr gute Arbeit geleistet. Sein Chor ist - zugespitzt noch in Horwitz’ eher eindimensionaler Interpretation - Hauptakteur des Abends und er macht das perfekt. Da singt die Inszenierung dann doch ein hohes Lob des Kollektivs, denn auch die Solisten sind Teil des Chors, müssen auf charakterliche Zuspitzung verzichten. Gesanglich strahlt und funkelt es allenthalben.
Dominique Horwitz zeigt tristen Alltag im real existierenden Sozialismus und spart menschliches Fühlen und Handeln aus. So bleibt Moskau - Tscherjomuschki ein eher fades Lehrstück, schafft sehr wenige Anknüpfungspunkte für das Publikum.