Unter Druck
Hätte Wendla damals ein Smartphone gehabt, wäre vielleicht eine Leiche weniger zu beklagen gewesen - damals, im Jahr 1890, in dem Frank Wedekind sein Schauspiel Frühlings Erwachen schrieb. Schon damals hat kein ernstzunehmender Mensch mehr das Märchen geglaubt, Mama und Papa bekämen ihr neugeborenes Kind vom Storch. Auch Wendla nicht. Aber mit ihrer insistierenden Frage nach sexueller Aufklärung stößt sie bei ihrer Mutter auf Granit. Heute guckt man bei Youtube nach einem Filmchen und weiß anschließend Bescheid!
Aus Wedekinds Frühlings Erwachen haben Texter Duncan Sheik und Komponist Steven Sater ein 2006 uraufgeführtes Musical gemacht, das sich eng an die literarische Vorlage hält. Natürlich ist klar: aufklären kann sich heute jedes Mädchen, jeder Junge von ganz alleine. Aber die grundsätzlichen, im Schauspiel thematisierten Probleme sind geblieben: ein autoritäres Elternhaus, das knallharte Regeln aufstellt; engstirnige Lehrerinnen und Lehrer mit unterbelichtetem Sensus für die Ängste ihrer Schülerinnen und Schüler; das Gefühl vieler Kinder und Jugendliche, in eine gigantische Maschinerie eingespannt zu sein, die gnadenlos den Takt vorgibt. Wie heißt es an einer Stelle: „Alles ist im Arsch, die Maschine setzt dich in Marsch!“ - all diese von Wedekind aufgezeigten Phänomene sind auch heute längst noch nicht Schnee von gestern.
Umso mehr passte Frühlings Erwachen respektive Spring Awakening als Vorlage für die jüngste Arbeit des TheaterJugendOrchesters (TJO) am Theater Münster. Und wie! Schon das große Gewächshaus inmitten der Bühne war eine pfiffige Idee: mal die engen vier häuslichen Wände bildend, mal klaustrophobisches Klassenzimmer, in dem „gezüchtet“ werden will. Ein paar kleinere Varianten dieses Gewächshauses hängen von der Decke herab, von denen eines später zum Liebesnest für Wendla und Melchior wird - letzterer der Klassenprimus, ein nachdenklicher Typ, der vieles, was als „normal“ gilt, in Frage stellt und sich um seinen Klassenkameraden Moritz kümmert. Dieser hat sich die Intelligenz nun mal nicht mit der Suppenkelle einverleibt, ist aber trotzdem ein total netter Kerl. Doch der Druck von außen überfordert ihn, zumal in dieser Inszenierung der autoritäre Schuldirektor gleich dreifach besetzt ist und unisono spricht. Gleiches gilt für Wendlas ebenfalls in dreifacher Ausfertigung agierende Mutter. Direktoren und Mütter dieser Art sind halt viele! Und hier, beim Projekt des TJO sprechen sie alle perfekt synchron und mit durchdringender Stimme.
Auf andere Art gemeinsame Sache zu machen, ist die große Herausforderung von Spring Awakening. Das betrifft die Umsetzung auf der Bühne. Denn das Stück ist eine Ensembleleistung. Professioneller wie hier am Premierenabend hätte sie nicht ausfallen können! 23 junge Leute schauspielern, singen und tanzen da über neunzig Minuten lang, als wäre das ihr Leben. Die Koordination der Bewegungen, der sprachliche Ausdruck, die absolut überzeugend ausgestalteten (und zahlreichen!) Choreografien… das ist schwer beeindruckend. Vor allem aber auch der Gesang, bei dem keine Wünsche offen bleiben. Da stimmt immer und überall die spezielle Musical-Farbe, da stimmen dynamische Schattierungen und die Intonation… einfach fantastisch! Spring Awakening hat selbstverständlich auch seine sehr, sehr berührende Momente. Wie sensibel sich Melchior und Wendla langsam liebend aneinander herantasten! Wie Melchior dann verzweifelt vor dem frischen Grab seiner neuen Freundin kauert (sie stirbt nach einem missglückten Schwangerschaftsabbruch) und alles, was mal Zukunft hätte sein können, zerbricht! Das sind schon ganz starke Augenblicke dieser Inszenierung.
Getragen wird sie vom instrumentalen Partner, eben dem TheaterJugendOrchester. Mit ihm entwickelt Dirigent Thorsten Schmid-Kapfenburg einen supertollen Musical-Sound, der dort, wo er Groove bekommen soll, auch bekommt; der genauso gut aber auch Stille und Zartheit zu vermitteln in der Lage ist. Schöne Soli etwa vom Holz und Blech sind überdies noch zu hören. Also auch hier derselbe Eindruck wie beim Ensemble der Darstellerinnen und Darsteller: eine durch und durch „runde Sache“.
Kleiner Kritikpunkt: die Original-Texte des Musicals wirken an wenigen Stellen antiquiert. Kaum vorstellbar etwa, dass Jugendliche heute noch wissen, was es mit dem Begriff „Engel“ in Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch auf sich hat oder etwas mit „Bleichsucht“ anfangen können. Und dass sie sich mit Vor- und Nachnamen anreden, ist auch nicht mehr ganz zeitgemäß…
Dass Spring Awakening eine Ensembleleistung ist, meinen offensichtlich auch ganz zu Recht die „Macher“ dieses Projektes - und verzichten darauf, einzelne Solistinnen und Solisten namentlich im Programmheft aufzuzählen. Deshalb sei nachfolgend das gesamte Ensemble genannt:
Annalena Pruhs, Carmen Finzel, Elvira Zessin, Hanna Pulpanek, Joana Taskiran, Johanna Flaswinkel, Johanna W. Bickel, Johanne Pfeifer, Jonas Bauhaus, Jörg Dufhues, Kelly Alves, Konstantin Schumann, Lilia Deneke, Lucia Regenbrecht, Max Wielenga, Mia Sprick, Nadine Mbah, Oliver Schwentke, Raja Lücke, Shirin Badafaras, Sebastian Averdiek, Sönke Westrup, Til Ormeloh