Übrigens …

Spring Awakening im Bielefeld, Stadttheater

Knüppeldick und Knochenbruch

„Ich zeig’s Euch“ singt, nein: schreit Melchior heraus. Es entlädt sich alle Wut, aber auch alle Entschlossenheit, die sich in ihm aufgestaut hat. Und von allem ist das eine ganze Menge, denn die Erwachsenen haben alles versucht, ihn in seinem jungen Schülerleben auf Linie zu bringen. Knüppeldick und Knochenbruch heißen die Lehrer in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen und Steven Sater und Duncan Sheik haben sie für ihre Musical-Fassung übernommen. Zu Recht, denn Erziehung heißt für diese Menschen, Charaktere zu brechen, aufkeimende Individualität restriktiv in uniformes, „gesellschaftskonformes“ Verhalten umzubiegen. Melanie Kreuter und Martin Christian Rönnebeck übernehmen all diese repressiven Rollen und Regisseur Christian Müller hat die ihnen von Wedekind zugedachten satirischen Überzeichnungen durch angedeutete Schweinsgesichter noch verstärkt. Eng, ganz eng lehnt Müller sich an Wedekind an. So verhilft er dem fantastischen, ungeheuer sensiblen Musical Spring Awakening zu Gravität und Wirkung. Denn, machen wir uns nichts vor: Das Ganze ist kein lockerer Tanz um erwachende Sexualität. Es geht unter anderem um Sadomasochismus und auch um das Entdecken der eigenen Homosexualität. Und natürlich  auch um das Aufeinanderprallen gesellschaftlicher divergierender Utopien. Müller visualisiert sie, indem er die Erwachsenen in Gewänder steckt, die die Entstehungszeit von Wedekinds Drama repräsentieren - und die Kids in heutige.

So gelingt ihm ein ungeheuer überzeugendes Bild eines Pubertätsdramas, das 1906 genauso gültig ist wie 2018. Dass die Produktion getragen wird vom Miteinander von Profidarstellern und Jugendlichen aus der Region, macht sie authentisch. Diese Mischung ist das Unwiderstehliche dieser Produktion, nimmt ihr jeden Anflug von gelacktem Hochglanz-Musical. Isabelle von Gatterburg vereint alle Mitwirkenden in stimmigen, nie Effekte evozierende Choreografien. Sie schafft intime Momente mit linkisch-pubertärem Charakter, aber auch kraftvolle, voll jugendlichen Willem berstende Ensembles.

Natürlich verfügen „gelernte Musicaldarsteller“ über Mittel, die Szene zu dominieren, aber ohne Silja Erdsiek, Paul Erik Haverland, Adele Heinrichs, Elian Latussek, Nico Nefian, Simone Rau, Ann-Kathrin Veit und Nick Westbrock hätte diese Produktion keinen Reiz gehabt. Sie brachten das Echte, Realitätsnahe ins Bielefelder Theater.

Das haben auch die Profis gespürt und sich wunderbar ins Ensemble eingefügt. Michaela Duhme als so sensible Wendla und Marvin Kobus Schütt als todgeweihter Moritz, den Anja David als fast ätherische Lichtgestalt Ilse versucht aus dem Dunkel zu reißen. Und Benedikt Ivo formt den Melchior nachgerade zum zeitlosen Prototypen eines aufbegehrenden Pubertierenden.

Bei Frühlings Erwachen gilt nicht „Prima la musica“. Duncan Sheiks Melodien haben sich eindeutig dem Kommentieren der Handlung verschrieben. Und das gelingt Sheik perfekt. Ebenso versiert und perfekt zaubert sie der erfahrene Musicalkapellmeiser William Ward Murta mit acht Kolleginnen und Kollegen der Bielefelder Philharmoniker auf die Bühne. Aufgehen im Ganzen einer Produktion ist auch hier das Zauberwort. Das klappt wie am Schnürchen. Kusshand!