Trance in der Todeszone
Eine furchtbare Tragödie spielte sich am 10. und 11. Mai 1996 auf dem Gipfel des Mount Everest ab. Von einem Sturm überrascht, verloren acht Bergsteiger ihr Leben, unter ihnen zwei erfahrene Expeditionsleiter. Der Amerikaner Beck Weathers überlebte wie durch ein Wunder, bezahlte die Extremtour aber mit seiner Nase, seinem rechten Unterarm und allen Fingern der linken Hand, die wegen Erfrierung amputiert werden mussten. Sein Landsmann Jon Krakauer schilderte den Überlebenskampf und die verzweifelten Rettungsversuche in der so genannten Todeszone über 8000 Meter später in seinem Buch „In eisige Höhen“.
Am Theater Hagen begegnet uns Beck Weathers nun als Opernfigur wieder. Er ist einer von drei Hauptpersonen in dem rund 70-minütigen Einakter Everest, den der Londoner Joby Talbot nach einem Libretto von Gene Scheer komponierte. Warum ihn die Katastrophe am Berg zu seiner ersten Oper inspirierte, erklärt der bislang mit Film- und Ballettmusiken erfolgreiche 47-Jährige kurz vor Beginn der Premiere höchstpersönlich: Er sei fasziniert von den großen Themen, die durch die Grenzerfahrung anklingen. Es gehe um Liebe und Tod, Heldentum und Depression. Tatsächlich entsprechen die Figuren auf der Bühne real existierenden Personen. Der Bergführer Rob Hall und sein Kunde Doug Hansen, die das Protagonisten-Dreieck komplettieren, erfroren in 8750 Metern Höhe auf dem Südgipfel.
Die europäische Erstaufführung in Hagen stellt Regisseur Johannes Erath vor das Problem, sich szenisch vom Berg zu lösen und den inneren wie äußeren Nöten der Expeditionsteilnehmer einen zeitübergreifenden Rahmen zu geben. Dafür bemüht er Parallelen zu Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Das scheint zunächst recht weit her geholt, vergnügen sich die Lungenkranken von Davos doch mit allerhand frivolen Festivitäten, während die Everest-Aspiranten extreme Entbehrungen auf sich nehmen. Dass der Tod auf beiden Seiten mittanzt, ist indessen nicht zu leugnen. Hier wie dort geht es um zivilisationsmüde Menschen, die dem Alltag und ihren persönlichen Problemen entfliehen wollen. Die unter Luftnot leiden, um jeden Atemzug ringen. Die magisch von einem Berg angezogen werden, der sich als ihr Verderben entpuppt.
Übertrieben deutlich tut die Regie kund, dass sie dies als Suchtverhalten interpretiert. Der Chor wedelt lockend mit kleinen Plastikbeutelchen, der sterbende Doug Hansen zieht sich rasch noch eine Linie Koks in die Nase, und wir sehen die Doppelbedeutung vom „Schnee“ mit dem Holzhammer herbei gewunken. Das Einheitsbühnenbild ist ein klinisch weißer Saal, in dem weiß gekleidete Exzentriker in Rollstühlen zur rückwärtigen Fensterfront hinaus starren. Dort zeigen Videosequenzen, wie Höhenbergsteiger im Schneckentempo vorwärts stapfen. Wie sich ihren geblendeten Augen nichts bietet als Felsen, Schnee und Himmel. Talbots Partitur beginnt entsprechend langsam, quasi im Takt dieser schleppenden Schritte. Es ist einer von mehreren Grundrhythmen, die immer wiederkehren und die gemäßigt modern klingende Musik zusammenhalten.
Es sind vor allem die kristallinen, der Erdenschwere nahezu enthobenen Klänge, die an Talbots Partitur faszinieren. Flirrende Tremoli, gleißende Triller, Celesta- und Harfenklänge schaffen eine unwirkliche Atmosphäre, eine Art tönender Trance, in der die Sänger verschiedene Stimmungslagen anschlagen: mal ekstatisch jubelnd, mal delirierend, mal verzweifelt und resignierend. Das Zählen der Schritte, der Atemzüge, der verrinnenden Minuten und der verbrauchten Sauerstoffflaschen nimmt manische Züge an und macht die tödliche Gefahr der extremen Höhe beklemmend deutlich. Daneben gibt es wuchtige Ausbrüche eines ausgeprägten Schlagzeug-Apparats sowie Zuspielungen, die das Knistern des Funksprechverkehrs oder das Heulen des Windes wie in einer Collage beisteuern. Emotionen zu transportieren, ohne ins Süßliche abzugleiten, gelingt Talbot über weite Strecken gut.
Der Chor des Theaters und das Philharmonische Orchester Hagen sind unter der Leitung von Joseph Trafton hörbar engagiert. Als kommentierende Instanz einerseits und Träger der Naturgewalten andererseits, geben sie den inneren Kämpfen der Figuren eindringliche Schärfe. Rund um eine Glasvitrine, die ein Miniaturmodell des Everest zeigt, erleben wir drei starke Sänger-Darsteller. Da ist zunächst Musa Nkuna als Bergführer Rob Hall, der seinen völlig erschöpften Kunden Doug Hansen nicht auf dem Berg zurück lassen will und seinen Edelmut mit dem eigenen Leben bezahlt. Nkuna gibt diesem Helden sehr menschliche Dimensionen, wenn er seinem hellen, zunächst zuversichtlich klingenden Tenor immer stärker Töne der Verzweiflung und Resignation beimischt. Da ist Doug Hansen selbst, dem Kenneth Mattice ein angenehm warmes Timbre verleiht. Da ist nicht zuletzt Morgan Moody, der die Partie des Beck Weathers mit grüblerisch-dunklen Untertönen füllt. Eher Randfiguren bleiben die Frauen trotz guter Leistungen in dieser überwiegend männlichen Bergsteigerwelt (Veronika Haller als Rob Halls Ehefrau, Elizabeth Pilon als Weathers Tochter Meg).
Zur Speerspitze der musikalischen Avantgarde zählt der Opernerstling von Joby Talbot sicherlich nicht. Gleichwohl ist ihm ein interessantes, atmosphärisch dichtes Stück über menschliche Hybris und Verletzlichkeit gelungen.