Geschwisterkampf in Babylon
Mit verzweifelter Wut klammert sich die kleine Abigaille an einen Teddybären. Zu dumm, dass Papi immerzu die blonde jüngere Schwester bevorzugt! Stets ist es Fenena, die Nabuccos ganze Liebe und Aufmerksamkeit genießt, während Abigaille im Abseits bleibt, so sehr sie sich auch um Zugehörigkeit bemüht. Was für das Mädchen unerreichbar bleibt, versucht es später im Leben durch Macht zu ersetzen.
Mit dieser stummen Szene, dargestellt von zwei Kindern und Bastiaan Everink als Nabucco, setzt die Regisseurin Sonja Trebes am Gelsenkirchener Musiktheater das biblische Geschehen um den glücklosen König von Babylon in Gang. Sie deutet den Vierakter des jungen Giuseppe Verdi im Geiste von Shakespeares König Lear, dessen Vertonung Verdi zwar einst plante, jedoch nie in die Tat umsetzte. Zwei rivalisierende Schwestern, ein alternder König und ein roter Feldherrenmantel als Symbol der Herrschaft sind zentrale Motive ihrer Lesart. Wir sehen ein Familiendrama, mit Abigaille als innerlich zerrissener Protagonistin.
Bühnenbildner Dirk Becker muss bei dieser Neuproduktion so gut wie arbeitslos gewesen sein. Losgelöst von Raum und Zeit, spielt die Geschichte in einem schwarzen, meist spärlich beleuchteten Kasten mit wenigen Requisiten. Umso mehr Bedeutung kommt dem Licht zu (Patrick Fuchs), das die Figuren aus dem Dunkel schneidet, den Chor der frommen Hebräer als amorphe Masse zeigt, die weltzugewandten Babylonier hingegen in schillernde Grün- und Rottöne taucht. Auch die aussagekräftigen Kostüme von Britta Leonhardt unterstützen die stark auf die Figuren fokussierte Neuproduktion.
Indessen macht die Regie eine befremdlich naive Gleichung auf. Die Hebräer sind demnach arm, aber fromm und gut, die Babylonier reich, aber gottesfern und böse. Weil dieses Weltbild denn doch reichlich einfach erscheint, baut Trebes gegen Ende hastig ein paar Widersprüche ein. Zum Stichwort vom Untergang des Abendlandes senken sich prompt stilisierte Trümmer des World Trade Center von der Decke, während der entmachtete Nabucco zum amerikanischen Obdachlosen mutiert. Ach Gott.
Die Personenführung macht die emotionalen Spannungsverhältnisse zwischen den Figuren beinahe überdeutlich. Das führt zu intensivem Spiel, manchmal aber auch zu Überzeichnungen. In der Rolle der Abigaille muss Yamina Maamar sich ausgiebig krümmen, wie man es (leider) von mancher Santuzza aus der Cavalleria Rusticana kennt. Martin Homrich, der als Ismaele zwischen die Fronten gerät, bewegt sich im Wesentlichen taumelnd und greift sich dabei an die Stirn.
Wie Priester im Hintergrund Machtpolitik betreiben, zeigt die Regie hingegen treffgenau. Unter dem Deckmantel der Religion nutzen Babylonier und Hebräer die rivalisierenden Königstöchter für ihre Zwecke aus: Hier der Oberpriester des Gottes Baal, den Dong-Won Seo mit herrlich dandyhafter Attitüde als Zyniker entblößt, dort der Hohepriester Zacharias, dem Luciano Batinic in schwarzweißem Kostüm Stimme und Statur eines macht- und sendungsbewussten Propheten verleiht.
Mit dem Niederländer Bastiaan Everink, der einst als Elite-Soldat im Golfkrieg kämpfte, haben die Gelsenkirchener einen stimmstarken Gast für die Titelpartie gewonnen. Everink gibt dem Herrscher einen Bariton, der sonore Festigkeit verströmt, ohne dabei hart zu werden. Dem geistigen Niedergang der Figur entsprechend, mischt Everink im Laufe des Abends zunehmend zweifelnde, demütige Klänge hinzu.
Die anspruchsvolle Partie der Abigaille bringt Yamina Maamar nicht in Verlegenheit. Sie erreicht alle Höhen und Tiefen und lässt sich von keinem virtuosen Schlenker aus der Bahn werfen. Gleichwohl ist ihrer Stimme der Preis anzuhören, den Partien wie Wagners Isolde, Schostakowitschs Lady Macbeth und die Strauss’sche „Frau ohne Schatten“ fordern. Wo Verdis Melodien nach eleganter Linienführung verlangen, klingt Maamars Sopran spröde. Hochdramatische Schwere steht ihrem Bemühen im Weg, die feineren Farben der Figur zum Leuchten zu bringen. Ähnliche Probleme hat Martin Homrich, dessen Tenor im Fortissimo Kraft und Glanz entwickelt, unterhalb dieser Lautstärke aber unklar und flackernd bleibt. Anke Sieloff, seit mehr als zwanzig Jahren zum Ensemble des Hauses gehörig, schlägt sich achtbar in der vergleichsweise kleinen Rolle der Fenena.
Ein exzellentes Verdi-Dirigat liefert der Italiener Giuliano Betta ab. Die Neue Philharmonie Westfalen entfaltet unter seiner sorgsamen und punktgenauen Leitung große atmosphärische Bandbreite. Düstere Schicksalsschwere steht neben spritziger Leichtfüßigkeit, militärische Zackigkeit neben Klängen inniger Sehnsucht. Diese erreicht im berühmten Gefangenenchor ihren Höhepunkt. Opern- und Extrachor des Musiktheaters singen ihn wunderbar verhalten, laden Italiens heimliche Nationalhymne so diskret wie wirkungsvoll mit Stolz und Wehmut auf (Einstudierung: Alexander Eberle). Auch im weiteren Verlauf des Abends fällt die differenzierte Lautstärke der Chöre höchst angenehm auf. So nobel gestaltet, kann niemand sich dem magnetischen Sog von Verdis Melodien entziehen.