Der Kuss der Schaumstofffrau
Die Schönste ist sie nicht, die Braut Hippolyta. Eine viel zu dicke Nase trägt sie im alten, ziemlich runzeligen Gesicht; tiefliegende Augen scheinen von einem schweren, freudlosen Leben zu zeugen. Hippolyta heiratet Theseus. Bei der Hochzeitszeremonie kann sie sich zu einem schüchternen „Ja“ überwinden, aber küssen will sie den Mann nicht, den sie gerade gefreit hat: „Ik habe keine Beene …“
Das ist anrührend, das ist witzig, und das stimmt. Schon beim Betreten des puritanischen Raums in der ehemaligen Backfabrik in der Ronsdorfer Straße, wo der Schickimicki der Düsseldorfer Königsallee oder der linksrheinischen Stadtteile so weit entfernt ist wie Gangsta-Rap von Bach, Händel oder Purcell, hatten wir sie entdeckt: die Puppe im Brautkleid, der die Beine fehlten. Ein dickes Monster hatte uns mit einem frechen Spruch begrüßt. Der kleine gehörnte Teufel wird sich später als Puck entpuppen. (Obwohl: Entpuppen wird er sich nicht, denn Puppen sind und bleiben alle Figuren, die in Duda Paivas Version von Henry Purcells Semi-Opera The Fairy Queen auftreten). Nur eine Stunde dauert diese phantasievolle und unterhaltsame Aufführung. Die Handlung ist bekannt: Sie basiert auf William Shakespeares Sommernachtstraum. Der international akklamierte Tänzer, Theatermacher und Puppenspieler Paiva und der Saxofonist, Komponist und Arrangeur Willem van Merwijk haben sie radikal verkürzt und auf die Liebe zwischen Oberon und Titania nebst einem kleinen Vorspiel mit Theseus und Hippolyta reduziert. Bart Schneemann, der in der Aufführung die Oboe bläst, kündigt in einer humorvollen Einführung eine „Geschichte über alle Arten der Liebe“ an, über die körperliche und die platonische Liebe, über Eifersucht und die Liebe mit Tieren sowie am Ende über „die wahre Liebe“.
Hippolyta wird sich doch noch zu einem innigen Kuss bereitfinden - aber erst nach der Hochzeitsnacht. Die körperliche Vereinigung findet statt, indem Hippolytas Kleid eng um die Genitalbereiche der Puppe und ihres Puppenführers Theseus geschlungen wird; zur Penetration schiebt der Puppenführer die Faust in Hippolytas Kehle. Das mag drastisch wirken, weckt aber die erotischen Neigungen der Puppe und ihre Faszination für das männliche (menschliche?) Geschlecht: Die hässliche Hippolyta bekommt weichere, charmantere Züge. Hingebungsvoll genießt sie ihren ersten Orgasmus – und wer so genießt, ist auch bereit zum erlösenden Kuss. Wohlgemerkt: Bei der Dame handelt es sich um eine Schaumstoffpuppe. Aber sie vermag ihre Gefühle auf vielfältige Weise auszudrücken. Witz und Ironie der Darstellung sind bezaubernd und reizen wieder und wieder zum Lachen.
Den Brautstrauß übrigens fängt Titania: groß, hübsch, kahlköpfig und natürlich auch aus Schaumstoff. Francesca Lanza ist ihre Puppenspielerein, und sie singt die Purcell-Arien mit glockenheller Stimme, bezaubernd und klar wie der Tau an einem Frühlingsmorgen. Alle Puppenführer sind gleichzeitig glänzende Sänger. So überrascht zum Beispiel der Frechdachs Puck zur Liebesnacht von Theseus und Hippolyta mit einer wunderbar harmonischen Falsett-Stimme („One Charming Night“). Duda Paiva hat sich für seine jüngste Produktion mit dem Nederlands Blazer Ensemble zusammengetan, und so ist anstelle der von Purcell vorgesehenen Besetzung ein Orchester von elf Bläsern, einem Kontrabassisten und zwei Perkussionisten zu erleben. Die Musiker spielen in Paivas Inszenierung mit: Sie spenden den Puppen Applaus, spornen sie an, lachen sie aus – oder agieren auch schon mal mit Schweinemasken als Teil des spielenden Ensembles. Die Musikauswahl für den kurzen Abend ist optimal angepasst an die Möglichkeiten des Bläser-Ensembles, und wie bei der Textauswahl und der Handlung nimmt es der Regisseur auch bei der Musik nicht so genau: Da leiht er sich auch mal eine Arie aus Purcells „King Arthur“ („Fairest Isle“), und auch die Tiger Lillies dürfen einen mit wunderbarer Ironie gesungenen, ein glückliches Lachen beim wissenden Publikum hervorrufenden Song aus der Geisterbahn beisteuern („Why are you laughing? We’re all going to die“). Es sind die drei Hexen, die Oberon und dem Publikum dieses Lied entgegenschmettern. Drei Hexen – die stammen doch nicht aus dem „Sommernachtstraum“, sondern aus „Macbeth“? – Nun seien Sie doch nicht päpstlicher als der Papst: Die Hexen sind weder Schottinnen noch Athenerinnen, sondern hässliche Niederländerinnen aus der Barockzeit, entzückend gestaltete Schaumstoffpuppen von teilweise unförmiger Gestalt.
Titania und Oberon benötigen jeweils gleichzeitig zwei Puppenführer, die sich perfekt miteinander abstimmen. Ist Titania schon groß, so ist ihr Partner Oberon riesig. Mit großen Augen und stets leicht gebeugter Haltung steht er da, glatzköpfig und mit eindrucksvollen Muckis. BVB-Fans werden sich noch an den tschechischen Wunderstürmer Jan Koller erinnern: Oberon ist wahrscheinlich ein naher Verwandter von ihm. Die Muckis wird er brauchen, denn seine Taktik, die geliebte Titania an sich zu binden, indem er ihr ein Kind „gibt“, schlägt fehl. Einem roten Herzen, einem roten Beutel, einer roten Fruchtblase (oder wie auch immer man das Teil bezeichnen möchte, das aus Oberons Körper zu Titania fliegt) entsteigt ein süßes kleines Puppen-Baby, das schnell wächst und die Liebe seiner Mama fordert. Doch Oberon wird eifersüchtig, was zu Klopperei Nummer 1 führt. Titania wehrt sich gegen eine unerwünschte Umarmung, es gibt körperlichen Streit um das Kind, das sich durchaus zu wehren versteht und den Vater mit einer kurzen schnellen Kickboxer-Bewegung auszuschalten versucht. Abgerissene väterliche Gliedmaßen schweben poetisch durch Luft und Nebel als wären wir in der Laterna Magica. Wieder zusammengeflickt, erkennt Oberon, was er getan hat, und gerät beim Versuch der Rettung und Rückgewinnung von Titania in Klopperei 2, bei der der Schaumstoff seine Qualitäten als Puppenbastelstoff unter Beweis stellt: Dank muskelbepackter Arme deformiert ein gezielter Haken die Schädel von Oberons Gegnern aufs Allerliebste.
Ist das also Trash? Nicht im Entferntesten. Duda Paiva gelingt es in einer hinreißenden Inszenierung, auf die ganz eigene Art des Puppenspielers in die surrealistische, magische Zauberwelt von Shakespeare und Purcell einzutauchen. Dabei spielt Paiva auf der ganzen Klaviatur der Unterhaltungskunst: Der Abend ist poetisch und voller Witz, immer bezaubernd, manchmal spannend wie ein Abenteuerroman – ja, und manchmal nutzt der Regisseur auch die Mittel des Splatterfilms. Immer aber ist er phantasievoll in der Neu-Interpretation des Geschehens. Wir kennen die unsägliche Esel-Geschichte aus Shakespeares romantischem Märchen. Hier wird sie anders erzählt: Oberon, als habe er von dem Fluch der Titania gehört, demzufolge diese sich in das erste Lebewesen verlieben muss, das sie nach ihrem Schlaf sieht, reitet auf einem Esel zu ihr. Das Tier drängt sich zwischen ihn und Titania – und schon ist das Unglück geschehen. Der Esel schleckt die schöne Titania ab und betatscht sie auf eine Weise, dass eifrige #MeToo-Aktivistinnen ihn unverzüglich aus der Literaturgeschichte tilgen werden. Paiva aber ist zugleich subtiler und romantischer als Aktivistinnen und Aktivisten jeder Couleur: Titania ist während ihres Fluchs, der sie zur Sodomie mit einem Esel zwingt, auf einem Auge blind. Und es ist das Kind, das Oberon und Titania wieder zusammenbringt. Das ist nicht Trash, sondern Romantik – und ein wunderbarer Zukunfts-Optimismus.