Des Nackens Leid - die unerzählte Tragödie Afrikas
Eröffnung der Ruhrtriennale 2018, Spielort: Kraftzentrale , ein Teil der Industrie-Brache mit dem groben Charme der kraftvoll zum Kunst-Ort gewandelten monumentalen Hüttenwerksarchitektur. Vorbei an den Resten verschrotteter Großmaschinen erreichen wir über Metall-Gittertreppen eine riesige Halle im Dämmerlicht. Endlose Sitzreihen erstrecken sich durch die Länge eines arenagleichen Raumes. Davor auf die ganze Breite von geschätzten sechzig, siebzig Metern eine relativ schmale Bühne mit wenigen Requisiten: mannshohe Kisten, die sich später wie überdimensionale Puppenstuben zu kleinen Wohnungen aufklappen werden, ein Klavier, eine Leiter, die an Grenz-Wachtürme erinnert, ein weit in die Bühnenmitte ragender Holzsteg und last but not least das Kentridge‘sche Riesengrammophon mit gigantischem Trichter. Auf der Rückwand steht in riesigen Lettern wie aus einem News-Ticker: The Head and the Load are the trouble for the neck, ein altes Sprichwort aus Ghana, das William Kentridge sich als Titel für seine installative, szenische Musiktheaterarbeit borgte.
Langsam füllt sich die Bühne: eine Figur in angedeuteter Uniform mit Gasmaske vorm Gesicht besteigt den Wachturm und wirft einen gespenstigen Schatten auf die Wand, Instrumentalisten (Ensemble: The Knights) und Sänger gruppieren sich um das Klavier, Tänzer und Blechbläser erscheinen auf dem Holzsteg: alle in uniformierter Kleidung, erdfarbenen Kitteln, teils mit Aufdrucken, Markierungen, Jahreszahlen (Kostüme: Greta Goiris).
Ein Surren füllt den Raum, dann ein Schrei, der anschwillt zu Gebrüll, das in sirenenhaftes, ohrenbetäubendes Geheul, Gebell und Geblöke mündet. Ein Schwarzafrikaner in gelbem Jackett tritt ans Mikrophon – ein bisschen wie ein Conférencier – und gibt Erläuterungen: Der Erste Weltkrieg fand auch in Afrika statt. Neunzig Prozent des Kontinents waren im Besitz europäischer Mächte. Es herrschte Kolonialismus, Rassismus, Totalitarismus. Hunderttausende - vielleicht sogar zwei Millionen - Afrikaner starben, die meisten nicht als Soldaten, sondern als zwangsverpflichtete Lastenträger, als „carrier“. Vergessene Opfer eines sinnlosen Gemetzels.
Das alles kommt nicht als kolonialhistorisches Episches Theater, nicht als aufklärerische Dokumentation auf die Bühne, sondern als grandioses multimediales Spektakel der unterschiedlichsten Kunstformen, Medien und Erzählebenen. Brillant ist die Verflechtung von Animation, Videoinstallation, Tanz, Musik (Philip Miller und Thuthuka Sibisi), Stimm-, Instrumental- und Bewegungs-Performation. Dazu die alles umfassenden, durchwebenden zeichnerischen und sprachlichen Collagen.
Die Absurdität des Leidens und Sterbens dieser sinnlos in die Tragödie getriebenen Menschen, das soziale und ethnische Unrecht sowie das Unverständnis ihnen gegenüber spiegeln Kentridge und seine Musiker faszinierend in der Fragmentierung modernistischer, europäischer wie afrikanischer Sprach- und Musikwerke der Epoche. So lassen sie die Karikaturen der europäischen Machthaber Teile aus Kurt Schwitters URSONATE mehr lallen als sprechen und unterlegen den Text mit einem Chor mechanisierter Grammophone. Traditionelle afrikanische Gesänge werden gegen Zitate europäischer Komponisten aus der Kriegszeit gesetzt, wie Maurice Ravel, Erik Satie, Paul Hindemith oder Arnold Schönberg. Oder rhythmisches Klopfen, Knattern und Trommeln - Simulation brutalen Kriegsgeschehens - wird unvermittelt mit Kreislers Wiener Walzer konfrontiert. Man braucht das Programmheft, um die einander überlagernden Fragmente der zeitgenössischen Autoren aus dem Zusammenschnitt zu entwirren. Da finden sich Sätze des französischen Psychiaters und Philosophen Frantz Fanon ins SiSwati übersetzt oder des rumänischen DADA-Mitbegründers Tristan Tzara auf isiZulu. Textfragmente der Berliner Kongokonferenz, auf der Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt wurde, werden mit Sentenzen aus einem Handbuch für militärisches Exerzieren und Sprichwörtern in Setswana kompiliert. Doch dann - zwischen englisch-französisch-deutschen Sprachfetzen und afrikanischen Dialekten wird das Dada-Manifest von 1916 zitiert, ein Text, der exemplarisch als Link zwischen all den inkompatiblen Sprachen und Kulturen steht: Unverständlich, wie die in Nonsens zerfallende Sprache der Dadaisten, blieben offensichtlich die Worte und Nöte der Afrikaner für die europäischen Kolonialherren.
Die weithin absurde Sprach-, Klang- und Bewegungsebene wird überwölbt, persifliert und interpretiert von einer bravourösen Animation aus Kohlezeichnung, Video und bizarrem Schattenspiel auf der Projektionswand. Räume und Zeiten verdichten sich, stürzen ineinander; Landschaften tauchen auf, verwischen, zerfließen ins Nichts; Vögel, scheinbar Boten einer Idylle, zerplatzen, implodieren in tiefschwarze Klekse: Sie waren nichts als benutzte Briefboten der Mächtigen. Landkarten werden eingeblendet und sogleich zerschnitten, zerrissen, manipuliert. Die riesige Projektionsfläche wird zur Dokumentation von Unlogik und Paradoxie.
Nach dieser monströsen Kakophonie tritt Ruhe ein. Über die gesamte Breite der Bühne zieht eine endlose Prozession: ein eindrucksvolles Bild für den Leidenszug der Lastenträger, ihr Trauermarsch, am Ende ihr Totentanz? Und dahinter auf der Wand: eine Armee der Schatten. Denn alle, die auf der Bühne marschieren, werfen ihre Schatten: die Vorderen riesig, die Hinteren zwergenhaft. Doch nicht nur die Reflexionen wandern über die Wand, es sind viele, viele Figuren mehr. Da ziehen Kanonen und Schiffsteile tragende „carrier“ vorüber zwischen Scherenschnitten der gekrönten Häupter Europas. Und während der Engel der Geschichte gerade alles überschwebt, tauchen – zwischen Schattenrissen und Scherenschnitten - Wochenschaubilder auf, rollen vorüber, komprimieren die Zeit, holen die Geschichte ins Jetzt und machen aus The Head and The Load ein einziges, grandioses, bewegtes Tableau vivant. (Video: Catherine Meyburgh, Janus Fouché, Zana Marovic). Ein großartiges Zusammenspiel der Erzählebenen: Die Life-Musiker*innen und Performer*innen, ihre in die Zweidimensionalität projizierten Schattenbilder, dazu die Zeichnungen, Abbilder und Filmsequenzen im Video vereinen sich zu einem furiosen Klang- und Bildstrom.
Zuletzt ein anrührendes Requiem: ein Träger schleppt einen Toten über der Bühne, die Totenklage ertönt: „Wo sind unsere Hoffnungen geblieben?“, während eine endlose Liste mit Namen und Todesursachen über die Rückwand der Bühne rollt.
Kentridge, selbst Südafrikaner, verzichtet auf Exotik und Folklore. Auch die Kostüme knüpfen nicht an afrikanische Traditionen an, sondern zitieren kolonialistische Kleidervorschriften, die den Männern gewebte Kittel, den Frauen eher entstellende, den Nonnenhauben nachempfundene, ausladende Kopfbedeckungen verordneten.
Kentridge, der seit langem das Unrecht der Europäer an den Schwarzafrikanern zum Thema seiner künstlerischen Arbeiten macht, wagt es, die Blutspur, die der erste Weltkrieg dort hinterließ, als phantastische Collage - und nicht als Narrativ - verdichtet auf die Bühne zu bringen. Das Premierenpublikum war begeistert und dankte mit Jubel und Standing-Ovation.