Brüchige Einheit des Seins
Wir betreten die Jahrhunderthalle durch den Hintereingang: vor uns erstreckt sich der riesige Raum ohne jede Unterteilung. Vor den endlosen Sitzreihen an der linken Wand bewegen sich Zuschauer zwischen diversen isolierten Aufbauten. Eine Bühne gibt es nicht, offensichtlich wird die Halle komplett bespielt. Zwischen den Stationen bleibt reichlich freier Raum, ein Zusammenhang ist nicht erkennbar. Einzelne Requisiten wecken Assoziationen: da stehen Kirchenbänke, die sakral einstimmen könnten, aber auch knallrote Sesselchen, die eher in ein Kino gehören. Weiter links könnte eine buntbemalte Brücke über ein Rinnsal im Park führen, doch nichts dergleichen ist zu sehen. Eine lange Tafel mit mindestens zwanzig Stühlen steht im Hintergrund vor einem Häuschen, das vielleicht ein Wachhäuschen oder aber eine kleine Kapelle sein kann. In der Nähe des Eingangs, durch den wir alle eingelassen wurden, steht ein Kassenwagen mit einem marionettenhaft erstarrten Kassenwärter am Schalter. Langsam bildet sich eine Schlange davor: die puppenhaft künstlichen Figuren in seltsamer Retro-Kleidung scheinen aus einer anderen Zeit und Welt zu kommen und wer immer Inszenierungen von Christoph Marthaler und Anna Viebrock gesehen hat, weiß: wir sind angekommen in deren Theater-Kosmos.
Und dann, während die erste Figur mit angedeuteter Handbewegung durchgewinkt wird und im Zeitlupentempo einen Platz auf der kleinen Tribüne einnimmt, füllt sich der ganze Raum mit einer hinreißenden Schlagzeugperformance. Es schallt von allen Seiten, doch die Musiker bleiben unsichtbar, bis man - dem Schall folgend - hoch oben auf den Stahlgerüstbrücken über der Halle einzelne Schlagzeuger und ihren Dirigenten in skurrilem Knickerbocker-Outfit mehr erahnt als entdeckt. So verborgen werden sie über lange Strecken des Abends bleiben, und nicht nur das Schlagquartett Köln - verstärkt durch Student*innen der Musikhochschulen Köln, Essen und Detmold - sondern auch die grandiosen Bochumer Symphoniker werden den größten Teil des Abends unsichtbar bleiben. Erst vor dem phänomenalen Schlussteil werden sie sich in einer theatralischen Sonderschau dem Publikum zeigen.
Bis dahin kaum bemerkt, zieht sich eine Schiene längs durch die Halle, die eher wie ein Gebäudeteil als ein Requisit erscheint, auf der unvermittelt ein Holzhäuschen angerollt kommt, das alle Performer aufnimmt und von der Spielfläche bringt. Sekunden später kommt es zurück und speit eine endlose Reihe schwarzgekleideter Musiker und Musikerinnen in Abendrobe aus. Schweigend entsteigen sie dem Gefährt mit ihrem Instrument in der Hand, wohlgeordnet, die Bässe zuerst: über hundert Symphoniker! Ein surreales Bild! Sie umrunden in einer endlosen Prozession den Raum und nehmen irgendwo hinter oder neben der Zuschauertribüne Platz und sind so wieder unseren Blicken entzogen.
Wie die Musik sich aus den unterschiedlichsten Stücken zusammenfügt (da spielen auch noch das „Rhetoric Projekt“ sowie die Pianisten Mariko Sudo und Mirela Zhulali auf), so reihen sich die theatralischen Bilder zu kleinen Episoden aneinander. Dabei wiederholen sich einige Szenen - ganz im Sinne Marthalerscher Repetitions-Ästhetik - bis hin zu bizarrer Komik: immer wieder irrt ein kleiner Mann mit viel zu großer Tuba im hinteren Raum hin und her, als suche er sein Orchester - oder sich selbst? Oder die gesamte Performance-Truppe nimmt Platz an der langen Tafel und beginnt wiederholt einen regelrechten Sitz-Tanz, bevor alle nacheinander ihre Körper auf die Tische schieben und bäuchlings in rhythmischen Bewegungen darüber hinweg kriechen. Hektische Szenen, in denen getanzt, gebalgt und gekämpft wird, wechseln mit stillen, ernsten Einschüben. Ergreifend die Szene, in der jeweils zwei Performer einander folgen, der Hintere dem Vorderen in regelmäßigen Abständen auf die Schulter tippt, dieser aber nicht reagiert. Ein Bild der Trostlosigkeit über viele Minuten, bis sich alle zu einer Reihe zusammenschieben und die Reaktions- und Kommunikationslosigkeit zum traurigen System wird.
Wie die Klangwelten im Sinne Charles Ives‘ zwischen Urzeiten und unbestimmter Zukunft pendeln, so nähert sich Marthaler auch auf szenisch-sprachlicher Ebene dem Universum aus unterschiedlichen Perspektiven und lässt uns „aus einer entfernten Zukunft auf unserheutiges Leben zurückblicken“. Dazu rollt er einen riesigen, doch versehrten Dinosaurier auf die Bühne und in scheinbar kuriosen Nonsens-Sprach-Kaskaden blitzen bei genauem Hinhören ernsthafte Zeitpartikel auf: am Grabmal unbekannter Sekunden begegnen uns sowohl die Antike als auch Hamlet, der Dänenprinz. Doch dann rücken uns die Warnung „you are leaving the american sector“ und der immer wieder eingeblendete Hinweis „ALERT CREW“ Kriegs- und Nachkriegszeit nahe. Auch Daten tauchen auf: der fünfzehnte März - mag sein, es meint die Ermordung Cäsars in vorchristlicher Zeit als zeitlose Metapher bevorstehenden Unheils, vielleicht aber auch Hitlers Einmarsch in Prag 1939; der dritteOktober wird sich auf den Tag der Deutschen Einheit beziehen und auch der elfte September reicht in die Gegenwart (Texte von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger).
Die Frage der Musik nach einer vergeistigten Zukunft aber bleibt unbeantwortet. Dennoch, die Bühnenmenschen halten inne in ihrem grotesken Spiel und Streit, verteilen Gebetbücher auf die Kirchenbänke und verharren mit geneigtem Kopf in stummem, ergriffenem Lauschen. - Christa Fluck
Zur Musik von Charles Ives
Von 1915 bis 1928 grübelte Charles Ives (1875-1954) über ein Musikwerk nach, das die Existenz des Menschen und der Welt zum Gegenstand haben sollte.: seine Universe Symphony. Sie blieb Fragment: einige Partiturseiten, Entwürfe, Skizzen, Gedanken. Aber genug Material, um die „Substance“, wie Ives sein musikalisch-philosophisches Konzept nannte, kenntlich zu machen. In drei Sätzen sollte die Entwicklung des Ganzen von der Schöpfung der Urmaterie über die Vielfalt der Natur und des Menschen bis zur Aufhebung des Vorläufigen in einer komplexen geistig-sinnlichen Einheit zum Klingen gebracht werden. Die Vorstellung unterschiedlicher Ensembles mit vielfältigen traditionellen und ungewöhnlichen Instrumenten, vor allem im perkussiven Bereich, in der Landschaft verteilt, konkretisierte ein utopisches Bild von heterogenen Teilen, die nach und nach zu einer großen spirituellen Synthese verschmelzen. Ives stand mit diesem Konzept in der Tradition des amerikanischen Transzendentalismus und seiner wichtigsten Vertreter, der Philosophen und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Henry David Thoreau (1817-1862), die die gesamte Ästhetik von Ives entscheidend prägten. Der bunten Fülle der Natur und des Lebens von der Alltagstrivialität bis zur subtilen Feinheit entspricht bei Ives die Fülle der musikalischen Klänge, Ordnungen, Stile und Gattungen: diverse Instrumente; Pentatonik, Diatonik, Ganztonleiter, Chromatik, Vierteltonbrechungen; Tonalität, Atonalität; Volksmelodien, Märsche, Hymnen, Choräle, Symphonien; Lieder, Kammermusik, Orchesterwerke... Und all dies einzeln, überlappend, simultan; transparent, komplex, massiert; in verschiedenen Tonarten und Tempi; polystilistisch-plural-total.
Im musiktheatralischen Großprojekt Universe, incomplete der Ruhrtriennale 2018 werden die aufführbaren Teile der Universe Symphony mit anderen Kompositionen von Ives verbunden, mit Orchester- und Kammermusikwerken, Chören und Liedern. Ives‘ Pluralismus trägt das ganze Programm in der Komplexität des einzelnen Werkes wie in der sukzessiven und simultanen Montage. Der formale Aufbau der knapp zweieinhalbstündigen Aufführung folgt einer musikalischen Dramaturgie der Verteilung qualitativer Charakteristika: homogene Flächen, Steigerungen, Reduktionen, Wellenbewegungen, harte Schnitte, Überblendungen, filigrane Lyrismen, meditative Phasen, chaotische Ballungen. Gestaltete und erlebte Zeit treten in eine dynamische Wechselbeziehung. Durch diese Kontextualisierung nehmen die einzelnen musikalischen Objekte Kontakt auf, kommentieren und relativieren sich gegenseitig: sentimentale Chorsätze und die Vierteltonstücke für zwei Klaviere, die Militärkapelle und die Lärmwalze, das Volksfest und der Choral. Dabei entpuppen sich scheinbar heterogene, zitatartige Versatzstücke als motivisch und rhythmisch verwandt, ohne allerdings Entwicklungstechniken von Beethoven zu imitieren. Die Vierteltonmelodik und –harmonik erscheint als subtil gesteigerte Leittönigkeit, ostinatoartige Flächen ergänzen sich zum Geläute, komplexe Mischungen wachsen zu einem dichten Gewebe zusammen, das bisweilen an Stockhausens Carre denken lässt (Ruhrtriennale 2016).
So konstituiert sich der klangliche Gesamtablauf weniger als Collage, sondern eher als ausdifferenzierte Totale, in der die Stilpluralität, verteilt im Raum, unterschiedliche Positionen des Individuellen, des Kollektiven, des historischen Ortes abbildet: einen Kosmos der Vielfalt. Hier könnten Ives´ Gedanken zur menschlichen Existenz ihre musikalische Entsprechung finden. Jedenfalls spiegelt die Inszenierung von Christoph Marthaler verwandte soziale Strukturen und kommunikative Beziehungen. Die statistischen Aggregatzustände der Musik korrespondieren mit gesellschaftlichen Verhaltensmustern als existentiellen Metaphern. Auf der riesigen Spielfläche der Jahrhunderthalle wirkt der sezierende Blick hellsichtig - klar und gleichzeitig seltsam verloren.
„Für den Fall, dass es mir nicht gelingen sollte, dieses Werk zu vollenden, findet sich vielleicht jemand anderes, der den Versuch unternimmt, meine Gedanken auszuarbeiten.“ Diese Aufforderung von Ives, abgedruckt im Programmheft, kann angesichts des wenigen originalen Materials nur ein Weiterdenken und Weiterkomponieren bedeuten, also eine immer wieder neue Auseinandersetzung mit der „Substance“ der Universe Symphony. Dieser Prozess wird und muss die jeweilige existentielle Situation des geschichtlichen Augenblicks reflektieren, ohne das philosophische Programm von Ives aus den Augen zu verlieren. Universe, incomplete artikuliert mit dem inszenierten Einlass das Beginnen, begleitet von dichter werdenden Perkussionsflächen über einem dumpfen Klanggrund: kein Chaos wie in der Schöpfung von Joseph Haydn, kein „Urnebel“ wie bei Anton Bruckner, sondern ein ins Leben drängender Urpuls, der in der Wiederholung zum Glockengeläut wird, Zeichen einer spirituellen Botschaft und Tönung des folgenden Musiktheaters, eines akustischen und szenischen Kosmos, der um das Leben und Leiden des Menschen kreist. Das Heute erscheint musikalisch und szenisch disparat: Vereinzelung, Kampf, Verletzung, Sinnverlust bevölkern in quälender Isolation oder in krampfartigen Interaktionen die Leere, umgeben von einer Musik, die in der Riesenhalle zentripetale oder zentrifugale Kräfte freisetzt, denen die Darstellerinnen und Darsteller und sogar die Musikerinnen und Musiker ausgeliefert sind. Angesichts des Weltzustands gerät Ives` optimistische Totale beinahe aus dem Blick und weicht einem absurden Theater, das an Samuel Beckett oder Karl Valentin gemahnt. Mit dem Beginn des Streichquartetts Nr. 2 ändert sich das Bild. Spirituelle Energien lassen die erschöpften Körper zu einer lädierten Ruhe kommen. Dann hebt aus der Stille der zarte Streicherchoral des Schlusswerks an: The Unanswered Question. Der Ruf der Trompete weckt eine vage Hoffnung auf „the spiritual eternities“. Ives` Utopie der ewigen Einheit bleibt eine offene Frage: Universe, incomplete
Marthaler, Engel und Viebrock haben Ives weitergedacht , die „Substance“ füllt als Ahnung die Jahrhunderthalle: ein großer, bewegender Abend. - Karl-Heinz Zarius