Von hellen und dunklen Seiten
Ach, was soll denn noch all das Forschen, all das Streben nach Wissen, Weisheit und Erkenntnis? Letztendlich führt es doch zu nichts - außer zu der Tatsache, dass man dadurch womöglich das „richtige“ Leben schlichtweg verpasst. Eine späte Einsicht, die dem alternden Herrn Doktor Faustus da dämmert! Also greift er resigniert zum Giftbecher, um seinem irdischen Dasein ein schnelles Ende zu setzen. Fast wäre ihm dies auch gelungen. Doch kurz vor knapp taucht Méphistophélès auf: mit dem Versprechen, ihm, dem Doktor Faustus, alles verschaffen zu können, wonach ihm insgeheim denn doch noch verlange. Diese Frage ist schnell beantwortet: zurück zur verlorenen Jugend. Jugend und Frauen!
Goethes „Faust“ war Vorlage, aus der eine ganze Reihe Opern diverser Komponisten wurde. Charles Gounods Version ist gewiss diejenige, die sich am intensivsten durchgesetzt hat und jetzt zu Beginn der Spielzeit 2018/2019 im Landestheater Detmold von Regisseur Jan Eßinger auf die Bühne gebracht wurde. Das Faustische und das Dämonische - Eßinger versteht es als zwei Seiten derselben Medaille, als antagonistische Pole ein- und derselben Seele, auch unserer eigenen. Was er im ersten Bild seiner Inszenierung auch sinnfällig erfahrbar macht: Fausts Bewegungen und Gesten vor einem meterhohen imaginären Spiegel seines Arbeitszimmers werden kopiert von dem dahinter stehenden und fast identisch gekleideten Méphistophélès, kleine Abweichungen inbegriffen. Dieser durchaus plausible Ansatz, dass wir selbst, die da im Opernhaus sitzen, neben hellen eben auch dunkle Seiten, Abgründe und unerfüllte Triebe in uns tragen, geht dann allerdings schnell verloren. Übrig bleibt eine durchaus spannende und am Ende auch tragische Erzählung der Geschichte von Marguerite und dem wieder aufblühenden Faust, der sie schwängert - und sie anschließend bald wieder verlässt.
Die Ausstattung verortet Gounods Erfolgsoper ins 19. Jahrhundert mit sporadischen Verweisen ins Hier und Jetzt. Vor allem verzichtet sie auf jede Art von Opulenz, im Gegenteil: die Bilder sind oft karg - und schaffen gerade dadurch Eindringlichkeit! Etwa die Verzweiflung Marguerites, die ihre Verlassenheit mitsamt ihrem Säugling an einem nackten Bettgestell aus kaltem Metall beklagt, während Schnee vom Himmel rieselt. Das Duell zwischen Marguerites Bruder Valentin und Faustus findet statt vor der in der ganzen Inszenierung omnipräsenten schwarzen Holzvertäfelung, die den äußeren Rahmen liefert, auch für das zünftige Volksfest, auf dem Faustus und Marguerite sich begegnen. Die Kirchenszene überzeugt dank eines einzigen hölzernen Kreuzes, das zum Kruzifix wird, indem Méphistophélès sich daran heftet und von dem er mit priesterlicher Stola behangen herabsteigt. Alles in allem also eine grundsolide Regiearbeit, die allerdings nicht immer einlöst, was die im Programmheft formulierten Intentionen des Regisseurs erwarten ließen. Ein neuer Erkenntnisgewinn stellt sich hier nirgends ein.
Musiziert wird in Detmold sehr fein! Lutz Rademacher am Pult des Sinfonischen Orchesters des Landestheaters changiert klanglich zwischen filigran gestaltetem Pianissimo und kraft- und lustvollem Tutti und spürt sehr differenziert ganz viele Zwischentöne auf. Das findet seine Entsprechung in dem singend wie schauspielerisch überzeugend agierenden Solisten-Ensemble, allen voran mit Emily Dorn als eigentliche Hauptperson Marguerite. Dorn setzt etliche Höhepunkte. Mit ihrem einfachen Lied vom „König von Thule“, dann auch mit dem nächtlichen Liebesbekenntnis zu Faustus und jenem herzzerreißenden Lamento, nachdem sie ihr Kind zu einem Engel gemacht hat. Ji-Woon Kim als Doktor Faustus verfügt über ein perfektes Timbre für das französische Fach und erreicht ohne jede hörbare Mühe all die Höhen seiner Partie, versinkt schließlich auch überzeugend in die verschiedenen Gefühlslagen seiner Rolle, exemplarisch erfahrbar in „Salut! Demeure chaste et pure“. Großes Lob verdient Lotte Kortenhaus als Siébel, dem sie mit ihrem biegsamen und farbenreichen Mezzo große Glaubwürdigkeit verleiht - ein vielversprechendes junges Talent! Was gleichermaßen gilt für Seungweon Lee, dem neuen Bass im Detmolder Ensemle. Er singt nicht nur gut, sondern spielt auch mit feinem Gespür die diabolischen Seiten seiner Rolle als Méphistophélès aus.
Ein solches Team dürfte Georg Heckel Spaß machen. Heckel hat mit Beginn dieser Spielzeit die Intendanz des Landestheaters als Nachfolger von Kay Metzger übernommen, der das Haus nach 13 sehr erfolgreichen Jahren Richtung Ulm verlassen hat. Heckel ist nicht nur ausgebildeter Sänger, er kennt das Theater und seine Funktionsebenen aus eigener persönlicher und langjähriger Erfahrung, vom Disponenten bis hin zum Operndirektor und stellvertretenden Intendanten. Beste Voraussetzungen also für die Leitung des Detmolder Hauses, das als größte Reisebühne Deutschlands wichtige Arbeit in Sachen kultureller Bildung für die Region und weit darüber hinaus leistet.